Was die Russen über den Westen und dessen Sanktionen denken, sollte sich der Westen genau ansehen. Bei meinem letzten Einkauf im Perekrostok, einem Supermarkt, welcher die Mittelschicht bedient, gibt es bis auf drei Produkte alles: Damenbinden aus dem Westen sind ausverkauft, so auch Zucker und Buchweizen. Letztere zwei Produkte wurden Opfer von Hamsterkäufen – vor allem durch ältere Menschen, die Angst vor einer Versorgungskrise haben. Sonst gibt es alles. Die Russen sind sich bewusst, dass Russland so ziemlich das einzige Land der Erde ist, das autark ist, das heisst, sie können die Grenze schliessen und kommen durch.

Viele Menschen im Westen vergessen, dass Russland seit der Krim-Krise im Jahre 2014 sanktioniert wird. Die russische Regierung und die Industrie haben vor acht Jahren sehr schnell reagiert, und die Landwirtschaft hat sich so ausserordentlich gut entwickelt, dass Russland heute weltweit einer der grössten Exporteure von Landwirtschaftsprodukten ist. Die Sanktionen werden somit keine Konsequenzen haben, welche die russische Bevölkerung auch nur an die Nähe einer problematischen Versorgungslage bringen wird.

Die Finanzsanktionen treffen viele Betriebe, die mit dem Westen zu tun haben beziehungsweise westliche Waren importieren. Das ist bitter für diese Unternehmen. Es ist noch zu früh, um über die mittelfristigen Konsequenzen zu spekulieren. Über die Stabilität der Banken hingegen machen sich die Russen zu Recht keine Sorgen, da diese sehr gut kapitalisiert sind und die Präsidentin der russischen Zentralbank, Elvira Nabjullina, – wie immer – schnell und gut reagiert hat: nicht innert Tagen, sondern innert Stunden.

Nach der ersten Angst der Russen, das Bankensystem könnte kollabieren wie 1998, versorgte Nabjullina die Banken mit Liquidität und erhöhte den Zinssatz von 8,5 auf 20 Prozent. Das war genau das, was es brauchte, und die Ruhe ist so schnell wieder eingekehrt, wie die Angst aufgekommen war. Ein Beweis dafür, dass der Westen von Nabjullinas Qualitäten überzeugt ist, lieferten die Briten, indem sie behaupteten, dass Nabjullina zurückgetreten sei. Nabjullina wurde jedoch am 18. März von Präsident Putin für eine dritte Amtszeit vorgeschlagen. Wahr ist somit das Gegenteil.

Den Raubzug des Westens gegen reiche Russen – nicht jeder reiche Russe ist übrigens ein Oligarch – macht jeden Juristen sprachlos. Oligarchen gehörten zu einer kleinen Gruppe, die sich während der Ära Jelzin mit westlicher Hilfe riesige russische Beteiligungen praktisch zum Nulltarif gekrallt hat. Die echten Oligarchen haben keine grosse Unterstützung bei der breiten russischen Bevölkerung und werden seit langem dafür kritisiert, dass sie ihren schnellen Reichtum nicht in Russland, sondern im Westen investiert haben und jetzt bitter für diesen Fehlentscheid bezahlen. Gegenüber dem Westen, der immer von Rechtsstaatlichkeit spricht, ist man über den rechtsgrundlosen Raubzug zwar entsetzt – etwas Schadenfreude gegenüber den Oligarchen ist dennoch auszumachen.

Dass die Sanktionen irgendwelchen Einfluss auf die Meinungsbildung der Regierung haben, schliessen die Russen aus. Die Russen meinen auch, dass sich der Westen dessen bewusst sei. Das führt dazu, dass sie empört sind, Sanktionen erleiden zu müssen, wenn doch der Westen genau weiss, dass diese mit Blick auf den Kurs der Regierung nichts bringen ausser grossen Schaden für die Unter- und Mittelschicht. Sie legen dies als russophobe Zerstörungswut des Westens aus.

Dass die neutrale Schweiz bei diesem Spiel mitmacht, sorgt in Russland übrigens für Entsetzen. Das Heidi-Land-Image leidet. Die Vorzüge des Schweizer Systems beschrieb ich früher mit den Worten, dass es sich die Schweiz durchaus leisten könne, sieben Dummköpfe in der Bundesexekutive zu haben, da das System in sich stabil sei. Heute muss ich jedoch eingestehen, dass ich nicht mit einem Bundesrat vom Kaliber Cassis rechnen konnte, aber wohl hätte rechnen müssen.

Die Russen haben eine Fähigkeit, zwischen der Politik, den Menschen und der Kultur eines Landes zu differenzieren – ganz im Gegensatz zum Westen. Obwohl sie sich etwa bewusst sind, dass die Politik der USA russlandfeindlich ist und war, hegen sie keinen Groll gegen die amerikanische Bevölkerung. Als Europäer sind die Russen emotional sehr nahe bei Westeuropa. Ferien in Westeuropa standen immer sehr hoch im Kurs. Die unterschwellige Russophobie, die übrigens auch in der Schweiz schon immer herrschte, lächeln die Russen souverän weg.

Die absolute Gleichschaltung der westlichen Medien genauso wie das vorsätzliche Vorenthalten von Informationen ist für die Russen dagegen unerträglich. Viele lesen übrigens westliche Medien, inklusive der NZZ, da sie den einheimischen Medien oft nicht trauen. Das Vorgehen der westlichen Medienleute verhindert jedoch eine differenzierte Diskussion, die zu einer Deeskalation führen könnte. Es scheint, als ob der Westen – einschliesslich der Schweizer Politik und Medien – an einer Deeskalation und somit an einem Frieden gar kein Interesse hätte.

Am Montag etwa berichtete die NZZ kritiklos über Nazivergleiche, die Präsident Selenskyj von sich gegeben hatte. Mit keinem Wort erwähnte die NZZ die ukrainischen Asow-Truppen – regelrechte Nazis – oder die weitverbreitete Verehrung der Nazis in der Ukraine. Auch die Tatsache, dass die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg sechzehn Millionen russische Zivilisten abgeschlachtet haben, fand keine Erwähnung. Ebenfalls unerwähnt blieb, dass Präsident Selenskyj einen Tag nach seiner Ansprache in Bern, wo er die Schweiz als Vorbild der Ukraine darstellte, alle Oppositionsparteien in der Ukraine kurzerhand verboten hat.

Informationen, die eine ausgewogene Berichterstattung erlauben würden, werden von der NZZ weggelassen. Am Dienstag publizierte die Zeitung dann einen Hetz-Artikel gegen den russischen Aussenminister Lawrow. Er wird als Diener des Bösen verteufelt, ohne dass jedoch irgendwelche Begründungen geliefert werden – der Verfasser bleibt anonym. Hetze jener Zeitung, die als vornehme «Alte Tante» daherkommen möchte – vom Hetzer zum Stürmer, das sollte Chefredaktor Gujer bedenken, ist es nur ein kleiner Schritt. Und die Gefahr ist gross, sich zu verstricken.

Peter Hänseler ist ein Schweizer Anwalt und Unternehmer. Seit 25 Jahren ist er in Russland tätig, seit einem Jahr lebt er in Moskau. Er ist dort nicht erwerbstätig und pflegt keinerlei Kontakte zu Politik oder Grossfinanz.