Dieser Kommentar erschien zuerst beim Norddeutschen Rundfunk. Der öffentlich-rechtliche Sender verwies ausdrücklich darauf, dass ihm die «Trennung von Meinung und Information» besonders wichtig ist. Es heisst: «Meinungsbeiträge wie dieser Kommentar geben die persönliche Sicht der Autorin/des Autors wieder.» Da diese Sichtweise in den deutschen Medien noch eine Seltenheit ist, dokumentieren wir den Beitrag im Wortlaut, ohne jedes Werturteil zum Inhalt.

 

Der Schriftsteller Heinrich Böll war ein gewaltig-friedlicher Streiter gegen militärische Gewalt. Er war aber kein Träumer. Er wusste, dass man einen Diktator nicht wegbeten kann. Es wusste aber auch, dass militärische Gewalt niemals den Frieden bringt. Panzer, Haubitzen, Granaten und Raketen können tödliche Bedrohung abwenden, sie können dem Verbrechen Einhalt gebieten und der Tyrannei ein Ende setzen. Aber Frieden bringen, das können sie nicht.

Heinrich Böll war ein Gegner der Abschreckung, weil sie auf Voraussetzungen fusst, die niemand kontrollieren kann; deshalb warnte er vor einer Eskalationsspirale. Das war zur Zeit des Kalten Krieges. Die Warnung gilt im heissen Ukraine-Krieg auch und erst recht. Böll hat damals viel Kritik einstecken müssen. Bei der Verleihung des Literaturnobelpreises sagte er in seiner Dankesrede, er sei durch einen «dichten Wald von deutschen Zeigefingern» marschiert. Und «gar manche Zeigefinger waren scharf geladen». Das ist jetzt gut fünfzig Jahre her. Heute gibt es die scharf geladenen Zeigefinger vor allem in der Parteistiftung der Grünen, die den Namen von Heinrich Böll trägt.

Durch den Wald von scharf geladenen Zeigefingern gehen heute Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Sie haben ein «Manifest für Frieden» verfasst, das mittlerweile eine halbe Million Menschen in Deutschland unterzeichnet haben. Zu den 69 Erstunterzeichnern gehören so verschiedene Leute wie der CSU-Politiker Peter Gauweiler und der Historiker Peter Brandt von der SPD, die Theologin Margot Kässmann, frühere Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Deutschlands, die Theologin Antje Vollmer von den Grünen, frühere Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, dazu der Musiker Reinhard Mey und der SPD-Politiker Günter Verheugen, der Ex-Vizepräsident der EU-Kommission. Ihr Manifest warnt vor einer Eskalation im Ukraine-Krieg, es warnt vor einer «Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg», es macht sich stark dafür, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden. Das Manifest fordert den Bundeskanzler auf, sich «an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen» zu setzen.

Kurz gesagt: Das Manifest versucht, dem Grundgesetz gerecht zu werden. Das Grundgesetz ist keine pazifistische Verfassung, es ist aber eine sehr friedliebende Verfassung. Es enthält ein Friedensgebot, nämlich die Verpflichtung, «dem Frieden der Welt zu dienen». Alle Grundrechte, auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Freiheiten, sind um des Friedens willen entstanden. Wenn einer deshalb den Frieden ernst nimmt und den richtigen Weg zu diesem Frieden sucht, ist das ernst zu nehmen, auch dann, wenn man selbst einen anderen Weg für richtig hält.

Das Manifest von Schwarzer und Wagenknecht wird von denen, die noch mehr und noch schnellere Waffenlieferungen an die Ukraine fordern, schwer gescholten – dass das Manifest «naiv» sei, ist noch der harmloseste der Vorwürfe.

Die Lieferung von Leopard-Panzern, von Kampfflugzeugen und Langstrecken-Raketen sei alternativlos, behaupten Kritiker des Friedensmanifests. Aber wer in der Demokratie Alternativlosigkeit behauptet, der will in Wahrheit die Wahrheit für sich pachten und setzt sich selbst ins Unrecht, weil er damit sagt, dass er nicht diskutieren will. Man muss aber diskutieren, man muss um den richtigen Weg ringen, weil es um Fundamentalfragen geht. Und wenn über den richtigen Weg zum Frieden gerungen wird, darf man dabei nicht rhetorisch Krieg führen. Der Politologe Herfried Münkler nennt den Friedensaufruf «gewissenlos». Das fällt auf ihn selbst zurück.

Unsere Diskussionen müssen sich unterscheiden von der Logik machtvoller Überwältigung, bösartiger Unterstellung und hasserfüllter Abwertung derer, die anderer Meinung sind. Es ist sonderbar, wenn Kriegsrhetorik als Ausdruck von Moral, aber Friedensrhetorik als Ausdruck von Unmoral bewertet wird. Es ist nicht gut, wenn die Leute, die für Eskalationsbereitschaft werben, als klug und mutig, und diejenigen, die vor einer Eskalationsspirale warnen, als töricht und feige bezeichnet werden. Es ist fatal, wenn Wörter wie Kompromiss, Waffenstillstand und Friedensverhandlungen als Sympathie-Kundgebungen für Putin gelten und so ausgesprochen werden, als wären sie vergiftet.

Verhandeln komme, so heisst es von den Gegnern des Manifests für den Frieden, schon deswegen nicht in Betracht, weil es keine Verhandlungsbereitschaft der Kriegsparteien gebe. Das ist gefährlicher Fatalismus. Man kann und soll Verhandlungsbereitschaft auch herbeiverhandeln. Dieser Plan ist viel aussichtsreicher als der Plan, Frieden herbeizubomben.

Heribert Prantl ist Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung.