In Westeuropa kam man Ende des Zweiten Weltkriegs zum Schluss, dass es nie mehr Krieg geben werde. Als vor allem die USA dennoch ihre Interessen in Dutzenden von Interventionen militärisch durchsetzten und dabei Millionen von Zivilisten ihr Leben lassen mussten, fanden das die einen gut und die anderen weniger – viel mehr war nicht zu spüren. Im Falle von Vietnam kam es zwar zu grossen Demonstrationen, jedoch ohne wirtschaftliche oder gravierende aussenpolitische Folgen für die USA.

Präsident Putin, der die Nato-Osterweiterung als Wortbruch der vom Westen anlässlich der deutschen Wiedervereinigung abgegebenen Zusagen bezeichnet und dies spätestens in München 2007 anlässlich der Sicherheitskonferenz in klaren Worten aussprach, kam nun fünfzehn Jahre später zum Schluss, dass der Westen die Sicherheitsbedürfnisse Russlands nicht ernst nimmt.

Putin schritt militärisch ein, nachdem er alle diplomatischen Bemühungen erschöpft gesehen hatte. Aus seiner Sicht stellen die USA, die Nato und eine daran angedockte Staatsmarionette 450 Kilometer von Moskau entfernt eine existenzielle Bedrohung für Russland dar. Ob diese Entscheidung richtig oder falsch war, wird die Geschichte zeigen.

Abgesehen vom Schoggi-Heidi-Image steht die Schweiz in den Augen der ganzen Welt für wichtige Charaktereigenschaften, die unser kleines Land nicht nur berühmt, beliebt und reich gemacht haben, sondern uns davor bewahrt haben, in den Fleischwolf zweier Weltkriege hineingezogen zu werden: Zuverlässigkeit und Rechtssicherheit auf dem Fundament der Neutralität, welche nicht nur in unserer Verfassung verankert ist, sondern auch in unserer Mentalität. Das gehört seit ein paar Wochen der Vergangenheit an.

Der Westen – dazu zähle ich für die folgenden Gedanken die USA, Westeuropa, Japan und Australien – scheint die Meinung zu vertreten, die Welt zu sein. Diese Gruppe von Ländern bringt jedoch lediglich eine Zahl von gut einer Milliarde Einwohner auf die Waage. Eine Zahl, die gegenüber dem Rest der Welt mit seinen 7 Milliarden Menschen verblasst. Auch wirtschaftlich und rohstoffmässig scheint der Westen die Verhältnismässigkeiten und Kräfte nicht zu erkennen. Letztlich ist der Westen dermassen pleite, dass es etwas peinlich wirken kann, in dieser Situation zum Hasardeur zu werden.

Die von den im Westen erstaunlich gleichgerichteten Medien entfachte Empörung und Russophobie könnte bei näherem Hinsehen zum Schluss verleiten, dass es sich bei dieser Auseinandersetzung um nichts anderes handelt als um einen wohlvorbereiteten amerikanischen Angriff auf Russland: die USA, verbündet mit einem Haufen naiver Mitläufer.

In alter Manier wurde destabilisiert, verunsichert und letztlich mit dem Amerikanisch-Ukrainischen Vertrag (US-Ukraine Charter on Strategic Partnership) vom 10. November 2021 der letzte Nagel in den Sarg des Friedens getrieben. Das Ziel der Amerikaner ist es, dem militärisch nicht zu erobernden Riesenreich einen fatalen Schlag zu versetzen, der Russland für Jahrzehnte destabilisieren oder wenigsten so weit schwächen soll, dass China keinen starken Partner mehr hat. Dann können sich die USA China zuwenden – divide et impera.

Die Amerikaner, die ihre Interessen regelmässig mit Waffengewalt wahren, haben es fertiggebracht, Westeuropa davon zu überzeugen, dass es nur den USA vorbehalten ist, militärisch tätig zu sein, und somit Russland durch sein jetziges militärisches Eingreifen automatisch zum Kriegsverbrecher wird. Die amerikanische Fähigkeit, mit diesem Marketing durchzukommen, verdient Anerkennung. Es waren ja vor knapp 250 Jahren ein Haufen frömmelnder Sklavenhalter, die in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niederschrieben, alle Menschen seien gleich.

Dass die Rechnung dieser westlichen Empörungsallianz gegen Russland nicht aufzugehen scheint, lässt sich bereits erahnen. China macht bei diesem Spielchen nicht mit, sehr zur Betrübnis der USA, die als Folge der chinesischen Absage in alter Manier neue Sanktionen gegen Peking erlassen haben, wieder einmal mit der Begründung des Uigurenproblems, da sich nicht einmal die USA getrauen, China offiziell wegen fehlenden Kadavergehorsams zu bestrafen.

Indien, der im Westen oft vergessene andere Riese im Osten, hat diese Woche nicht nur eine britische Delegation, die Zwecks Druckausübung nach Delhi reisen wollte, ausgeladen, sondern Russlands Aussenminister Lawrow auf Anfang April eingeladen.

Pakistan, ein weiteres aus westlicher Optik unbedeutendes Land, dessen Premier letzte Woche Präsident Putin besuchte, steht zu Russland. Der grosse Rest von Asien sieht sich nicht einmal veranlasst, sich gross zu diesem Thema zu äussern, da die Haltung dieser Ländergruppe gegenüber Russland klar zu sein scheint. Diese These wird jedenfalls mit einem Blick in die Presse dieser Länder bestätigt – kein Russland-Bashing weit und breit.

Dieser Rest der Welt bezeichnet Russland übrigens nicht als Freund. Ein solcher Wortgebrauch ist eine naive und unehrliche Mode des Westens: Kluge Aussenpoliker und Diplomaten sehen sich verpflichtet, die Interessen ihrer jeweiligen Heimatstaaten zu vertreten. Freundschaften, Feindschaften, Empörung, Verehrung und Verachtung sind grosse Hindernisse bei der Ausübung dieser Pflicht und gehören somit nicht in den Werkzeugkasten eines Aussenpolitikers. Die heutigen Mitglieder des schweizerischen Bundesrats schienen bei dieser Einführungslektion in die Geopolitik einen Fensterplatz gehabt zu haben, wenn sie überhaupt dabei waren.

Mit dem kopflosen Entscheid unserer Landesmütter und -väter, die EU-Sanktionen telquel zu übernehmen, hat die Schweiz nicht nur die Neutralität aufgegeben, sondern den jahrhundertelangen Nimbus der Zuverlässigkeit und Rechtssicherheit mit auf die berühmte Müllhalde geworfen. Es passt ins Bild, dass sich die kopflose Berner Elite, ihr eigenes Versagen wohl ahnend, trotzdem das Gegenteil einredet.

Aber die Fakten, die man im Bundeshaus ausblendet, sprechen eine überdeutliche Sprache. Wir befinden uns nun erstmals in der Geschichte der schweizerisch-russischen Beziehungen auf einer Liste «unfreundlicher Staaten» in ungesunder Gesellschaft mit Weltmächten wie den USA samt ihren Verbündeten in Westeuropa.

Hochmütige Vertreter von Finanz und Industrie werden nun argumentieren, dass man durchaus auf Russland als Partner verzichten könne. Dieses Argument ist jedoch ein weiterer Trugschluss. Die Schweiz hat nicht nur Russland, sondern der ganzen Welt gezeigt, dass wir keine zuverlässigen Partner mehr sind und dass die in unserer Verfassung verankerte Neutralität nichts mehr als ein Marketing-Gag war, der offensichtlich weniger Bestand hat als das Schoggi-Heidi-Image.

Es ist die Welt und nicht die Schweiz, die dieses Urteil abgeben und Konsequenzen ziehen wird. Unsere Regierung hat es nun innert Wochen fertiggebracht, dem Renommee dieses schönen kleinen Landes mehr Schaden zuzufügen als alle Banken in den letzten zwanzig Jahren zusammen – Bravo! Herzliche Gratulation!

Peter Hänseler ist ein Schweizer Anwalt und Unternehmer. Seit 25 Jahren ist er in Russland tätig, seit einem Jahr lebt er in Moskau. Er ist dort nicht erwerbstätig und pflegt keinerlei Kontakte zu Politik oder Grossfinanz.