Weltwoche: Sie sind zwar ein Befürworter der Sanktionen gegen Russland. Aber Sie kritisieren massive rechtliche Fehler der EU bei der Ausgestaltung der Sanktionen und sprechen von «grober Fahrlässigkeit».

Viktor Winkler: Die bisherige Durchsetzung etwa durch Deutschland ist bislang beschämend unzulänglich geblieben, was nicht an fehlendem Willen, sondern an zahlreichen strukturellen Defiziten liegt.

Weltwoche: Wo liegen die Probleme?

Winkler: Sehr angreifbar macht sich die EU mit der «Retroaktivität». Sie will die Oligarchen wegen Handeln in der Vergangenheit sanktionieren. Das ist sanktionsrechtlich unzulässig. Das Strafrecht – und Sanktionen sind ein Teil davon – ahndet ausschliesslich Verhalten in der Vergangenheit. Deshalb dürfen Sanktionen sich nur gegen gegenwärtiges oder zukünftiges Handeln der Oligarchen wenden. Zweitens dürfen Sanktionen das Handeln von Oligarchen nur dann bestrafen, wenn eine Beziehung besteht zwischen diesem Handeln und dem Angriffskrieg Russlands. Auch eine sehr lose Beziehung reicht. Aber bei einigen Oligarchen fehlt jegliche Beziehung: Sie haben zwar in der Vergangenheit zur Genüge Putin unterstützt. Aber jetzt fehlt deren aktive Unterstützung des Krieges, oder sie lässt sich zumindest nicht nachweisen. In diesen Fällen sind die Sanktionen klar rechtswidrig. Drittens sind in manchen Fällen die Begründungen für Oligarchen-Leistungen so vage formuliert, dass sie von EU-Gerichten nicht überprüft werden können im Rahmen einer Beweisaufnahme. Wie wollen Sie zum Beispiel den Tatbestand «Nähe zum Machtzirkel Putins» beweisen oder widerlegen? Eine klare und lange bestehende Rechtsprechung der EU-Gerichte erklärt genau dies zum Grund für Rechtswidrigkeit von Sanktionsleistungen.

Weltwoche: Einige Oligarchen haben vor dem EU-Gerichtshof EuG Klage gegen die EU eingereicht und fordern eine Aufhebung der Sanktionen.

Winkler: Weit über zwanzig Oligarchen klagen derzeit vor dem EuG. Wenn sie Erfolg haben, werden nicht «die Sanktionen» generell, sondern nur die Einzelleistungen des klagenden Individuums aufgehoben. Wenn allerdings ein Oligarch aus einem der oben genannten Gründe vor dem EuG obsiegt, werden wohl auch alle übrigen Oligarchen klagen, bei denen die gleiche Sachlage vorliegt. Ich gehe andererseits davon aus, dass die EU nach einer Niederlage vor Gericht die jeweilige Sanktion erlassen wird, allerdings etwas modifiziert. So hat sie das bisher sehr häufig gemacht.

Weltwoche: Sie haben Klienten, die wegen der Sanktionsgefahr zu Ihnen gekommen sind. Welche sind ihre Sorgen, und wie können Sie ihnen helfen?

Winkler: Im Kern wollen sie von mir drei Dinge wissen: Wie verhindere ich eine unbeabsichtigte Ansteckung meines Russlands-Geschäfts mit den aktuellen Sanktionen? Was muss ich und was kann ich ohne jegliches Russland-Geschäft, aber mit verzweigten globalen Lieferketten, tun, um mein Geschäft so sanktionskonform wie nötig zu gestalten? Und schliesslich: Wie muss ich meine Compliance-Systeme im Unternehmen anpassen angesichts dieses Sanktions-Tsunamis? Diese letzte Frage ist für meine Mandanten übrigens zunehmend auch ein Thema mit Blick auf Taiwan und die Gefahr von China-Sanktionen. Die wirtschaftlichen Implikationen sind regelmässig dort noch dramatischer als bei den Russland-Sanktionen.

Viktor Winkler, 44, ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Sanktionsrecht in Deutschland. Er betreut Banken, Firmen sowie Künstler und Sportler, die von Boykotten gegen Russland betroffen sind.