Protestwellen sind im Iran seit vielen Jahren fast schon ein Dauerzustand. Waren die Ayatollahs bei früheren Demonstrationen aber vor allem mit punktuellen Forderungen konfrontiert, zielen die Bürger jetzt direkt auf das Machtzentrum der Islamischen Republik, indem sie die Abschaffung des Hidschab-Zwangs verlangen.

Das Kopftuch wurde kurz nach der Islamischen Revolution (1979) als politische Säule der neuen iranischen Ordnung emporstilisiert. Ziel war es, damit die Bevölkerung zu kontrollieren. Das Tragen des Hidschab gilt seither als Lackmustest für die Loyalität zur Islamischen Republik.

Der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die Mitte September von der Moralpolizei wegen ihres «unislamischen Outfits» festgenommen und in Polizeigewahrsam unter bisher ungeklärten Umständen starb, hat die aktuellen Unruhen zwar ausgelöst.

Aber im Volk gärt es schon lange, weil Präsident Ebrahim Raisi die Islamisierung des Landes auf die Spitze treibt. Statt, wie er es im Wahlkampf versprochen hatte, gegen korrupte Beamte vorzugehen und die Wirtschaft anzukurbeln, rief er am 12. Juli einen «Nationalen Hidschab- und Keuschheitstag» aus. Die bisher schon strengen Kleidervorschriften wurden weiter verschärft. Zur Überwachung der neuen Vorschriften hat Raisi spezielle Hidschab-Wächter eingesetzt.

Der Protest ist nicht auf die Strasse beschränkt. Auch Angehörige der Elite kritisieren das Regime. Während einer Diskussion an der Universität Teheran sagte zum Beispiel Dschawad Sarif, der bis 2021 Aussenminister war, dass man die Unterstützung des Volks «nicht durch Unterdrückung» erhalten könne. Selbst Gott habe dem Propheten gesagt, «dass er das nicht tun kann».

Piruz Hanatschi, ehemaliger Bürgermeister der Hauptstadt, kritisierte an derselben Veranstaltung, dass das Regime alle Fragen nur aus der Optik der Sicherheit betrachte. Das sei «das grösste Gift» für das Land.

Auch in Teilen des Klerus wird die Hidschab-Pflicht nicht mehr vorbehaltlos unterstützt. Geistliche bezweifeln, dass es im Koran eine Grundlage für eine entsprechende Vorschrift gibt. Der Hidschab werde in der heiligen Schrift des Islam zwar siebenmal erwähnt, aber nicht als Pflicht, sondern als Zeichen weiblicher Sittsamkeit. Einige Geistliche schlagen deshalb vor, im Interesse des Landes die Durchsetzung des Hidschab flexibel zu handhaben.

Auch säkulare prominente Iraner kritisieren den Kopftuch-Zwang. Regisseure, Künstler, Schriftsteller und Sportler unterstützen öffentlich die Proteste gegen die Kleidervorschriften.

Den Forderungen der Demonstranten nachzugeben, sei für das Regime allerdings keine Option, meint Dina Esfandiary von der Denkfabrik International Crisis Group. Sollte es das tun, wäre das ein «Gorbatschow-Moment – der Anfang vom Ende der Islamischen Republik». Gorbatschows Reformen hatten den Bürgern zwar mehr Freiheiten beschert, aber auch zur Auflösung der Sowjetunion geführt.

Ob das Regime den Tod des 83-jährigen Revolutionsführers Chamenei überleben werde, sei indessen eine andere Frage, sagt Alex Vatanka, Direktor des Iran-Programms am Washingtoner Middle East Institute. «Er ist der einzige Kapitän eines Regimes, das im Sinken begriffen ist. Immer mehr Mitglieder des Regimes werden versuchen, das Schiff zu verlassen, da die Öffentlichkeit so wütend auf sie ist wie nie zuvor.»