Die Szene war gespenstisch. Sie steht für einen Vorgang, der die Welt noch jahrelang beschäftigen könnte.

Während der streng choreografierten Abschlusszeremonie des Kongresses der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) näherten sich zwei Beamte dem ehemaligen Präsidenten und Parteichef Hu Jintao. Sie hoben ihn aus seinem Stuhl und eskortierten ihn aus der Grossen Halle des Volkes.

Innerhalb weniger Minuten wurde ein Video dieser aussergewöhnlichen Szene in den sozialen Medien weltweit verbreitet.

Was geschah wirklich?

Auf der Bühne vor 2300 Delegierten, die gerade ihre Abstimmung in geschlossener Sitzung beendet hatten, sass Hu Jintao an prominenter Stelle links von Chinas derzeitigem Staatschef Xi Jinping. Hu ist der direkte Vorgänger von Xi.

Die Entfernung von Hu aus dem Saal ereignete sich bloss Minuten, nachdem ausländische Medien in die Grosse Halle eingelassen worden waren. Der Zeitpunkt dieses Ereignisses lässt vermuten, dass damit ausdrücklich ein symbolischer Akt inszeniert worden ist: Xi Jinpings Abkehr von der Politik seiner Vorgänger.

Die staatliche chinesische Medienagentur Xinhau begründete den Abtritt Hus mit gesundheitlichen Problemen des 79-Jährigen. «Hu Jintao bestand darauf, an der Abschlusssitzung teilzunehmen», obwohl er sich gerade erst «Zeit genommen hat, um sich zu erholen», so die offizielle Regierungsverlautbarung. «Als er sich während der Sitzung nicht wohlfühlte, haben ihn seine Mitarbeiter wegen seiner Gesundheit zu einem Raum nahe dem Treffen geführt, um sich auszuruhen. Es geht ihm jetzt viel besser.»

In den internationalen Medien begann sofort ein grosses Rätselraten über die wahren Gründe dieses höchst ungewöhnlichen Aktes.

Dass die Absetzung von Hu inszeniert war, scheinen die Ereignisse auf dem 20. Nationalkongress der KPCh zu bestätigen. Dort hatten die Delegierten die Aufnahme des «Xi-Jinping-Gedankens» in die chinesische Verfassung gebilligt. Die Delegierten hatten auch Xis «Arbeits»-Erklärung abgesegnet, in der er kaum verhüllte Kritik an Vorgängern wie Hu Jintao, dem Führer der sogenannten Kommunistischen Jugend, und Jiang Zemin, dem Führer der Schanghai-Fraktion, geübt hatte. Angeblich ist die Abneigung des 96-jährigen Jiang gegen Xi so gross, dass er sich weigert, ihn auch nur anzusehen.

Nach zehn Jahren im Amt scheinen die Fraktionskämpfe vorbei zu sein. Trotz zahlreicher Probleme, die das Riesenreich beuteln: anhaltende Covid-Krise, Proteste gegen die Abriegelung in Schanghai, der kollabierende Immobilienmarkt, die Säuberung von Chinas Technologie-Oligarchen und die schwächlende Wirtschaft. Alles Ereignisse, die einen westlichen Staatschef zu Fall gebracht hätten. Xi hingegen geht als mächtiger Mann gestärkt aus dem Parteikongress hervor, als eine Art «neuer Kaiser Chinas».

Xi wurde für eine noch nie dagewesene dritte Amtszeit zum Vorsitzenden der KPCh ernannt. Die vier neuen Mitglieder des siebenköpfigen Ständigen Ausschusses sind überzeugte Xi-Anhänger. Es ist ungewöhnlich, dass kein Nachfolger benannt wurde. Dies deutet darauf hin, dass Xi Jinping eine vierte fünfjährige Amtszeit anstrebt, um seine Führungsrolle bis 2032 auszubauen.

Angesichts der absoluten Machtfülle von Xi Jinping ist es unvorstellbar, dass Hu Jintao ohne Xis Zustimmung abgeführt wurde. Im Gegenteil: Hus medienwirksame Entfernung nimmt sich aus wie ein politisches Drama, das an die brutalen Säuberungen von Parteimitgliedern durch den Vorsitzenden Mao in den 1950er Jahren erinnert.

Warum ist die Übernahme der absoluten Macht durch Xi für den Westen von Bedeutung?

In der letzten Woche hat Xi deutlich gemacht, dass die neue Priorität Chinas die «Sicherheit» und nicht das Wirtschaftswachstum ist. Die damit einhergehende Militarisierung macht eine chinesische Invasion in Taiwan wahrscheinlicher. Der wirtschaftliche Kalte Krieg 2.0 wird sich weiter verschärfen.