Jahrelang galt die Nato als zahnloser Tiger.«Hirntot» sei das grösste Militärbündnis der Welt, erklärte Frankreichs Präsident Macron sogar unlängst.

Nichts davon sei wahr, entgegnet der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen im Gespräch mit der Weltwoche.

Der «ultimative Beweis» für die Vitalität der Allianz sei der Wunsch vieler Länder, der Nato beizutreten. Jüngst Finnland und Schweden.

Paradoxerweise sei es Putin, der der Nato «neue Lebenskraft und Enthusiasmus» verliehen habe. «Er wollte weniger Nato. Jetzt bekommt er mehr Nato.»

Rasmussen war während seiner Amtszeit als Generalsekretär (2009–2014) ein entschlossener Befürworter einer Nato-Osterweiterung, inklusive Ukraine und Georgien. Dass er und die Allianz damit den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine provoziert hätten, weist er vollumfänglich zurück.

«Es gibt nur eine Person, die für diesen Angriff auf die Ukraine verantwortlich ist, und das ist Putin.» Die Anschuldigungen, die Nato stelle eine Bedrohung für Russland dar, seien lächerlich. «Wir hegten nie die Absicht, Russland anzugreifen.» Die Nato sei «von Natur aus» eine Verteidigungs-Organisation.

«Anstatt der Nato Vorwürfe zu machen, sollte der Kreml ein wenig über die Tatsache nachdenken, warum die Nachbarn Russlands verzweifelt eine Sicherheitsgarantie wünschen.»

Rasmussen beteuert, er habe alles darangesetzt, mit Russland ein einvernehmliches Verhältnis zu etablieren. «Ich habe es zu einer meiner Prioritäten gemacht, eine strategische Partnerschaft mit Russland aufzubauen.»

Dabei habe der Westen tatsächlich «Fehler» gemacht. «Unser grösster Fehler war, dass wir seine Brutalität und seine Ambitionen unterschätzt haben.»

Rasmussen hat sich während insgesamt vierzehn Jahren immer wieder mit Putin getroffen. Zuerst als dänischer Premierminister, danach als Nato-Generalsekretär. Putin habe sich über die Jahre verändert, sagt er.

Jüngst habe er Notizen aus einem Treffen mit Putin aus dem Jahr 2008 konsultiert. Damals habe Russlands Präsident ihm unmissverständlich erklärt: Kiew sei «die Mutter aller russischen Städte». Und die Krim sei «bereits 1954 auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei unrechtmässig an die Ukraine übergeben worden». Man habe diese Aussagen und die dahinter verborgenen Absichten zu wenig ernst genommen.

Jetzt habe Putin seine Ambitionen erneut offenbart. «Vor ein paar Tagen hat er sich in Sankt Petersburg mit Peter dem Grossen verglichen. Er versucht nicht einmal, seine wahren Absichten zu verbergen, nämlich die Eroberung dessen, was er als altrussisches Gebiet betrachtet.»

«Die Lektion, die ich aus meinen Begegnungen mit Putin gelernt habe, lautet: Besänftigungspolitik gegenüber Diktatoren führt nicht zu Frieden, sondern zu Krieg und Konflikten.»

Es sei entscheidend wichtig, alles dafür zu tun, dass Russland aus der Ukraine herausgedrängt werde. Vorschläge wie jener von Henry Kissinger, Russland territoriale Zugeständnisse zu machen, um eine Demütigung Putins zu vermeiden, bezeichnet Rasmussen als «gefährlich» und «unverantwortlich».

«Dies würde bedeuten, einen atomar bewaffneten Staat zu belohnen, der einen friedlichen Nachbarn angreift», so Rasmussen. Damit sende man ein «schlechtes Signal» an Autokraten in der ganzen Welt.

Statt einer Nato-Mitgliedschaft sieht Rasmussen einen «neutralen» Status für die Ukraine als Option. Er sei mit dem ukrainischen Präsidenten Selinskyj in engem Gespräch darüber. Dies könne nur funktionieren, wenn die Ukraine über eine starke Armee und Sicherheitsgarantien von Drittstaaten verfüge.

Eine engere Kooperation der Schweiz mit der Nato, wie sie in Bern derzeit aktiv diskutiert wird, kann sich Rasmussen durchaus vorstellen. «Es könnte eine enge Partnerschaft sein, wie sie Finnland und Schweden in den letzten Jahren gepflegt haben.»

Selbstverständlich sei es Sache der Schweiz, wie weit sie in einer Annährung gehen wolle. Rasmussen ist jedoch überzeugt, dass die Nato von einer Mitgliedschaft der Schweiz profitieren könnte. «Wir wissen, dass die Schweiz aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres starken Willens, ihr Land zu verteidigen, substanziell zur allgemeinen Verteidigung Europas beitragen könnte.»

Anders Russland. Eine Mitgliedschaft des Riesenreichs in der transatlantischen Allianz schliesst Rasmussen zum heutigen Zeitpunkt aus. «Wir haben die Schwächen des russischen Militärs gesehen. Es entspricht in keiner Weise den Nato-Standards.»

 

Das ausführliche Interview mit Anders Fogh Rasmussen lesen Sie in der nächsten Printausgabe der Weltwoche.