Moskau

Nichts geht über den eigenen Eindruck. Darum fahre ich nach Moskau, ins Epizentrum des angeblich Bösen. Ich spreche mit Philosophen, jungen Künstlerinnen, einem ehemaligen Mitarbeiter russischer Regierungen von Gorbatschow bis Putin, Leuten auf der Strasse, Schweizern, die seit Jahrzehnten hier leben, finanziell längst unabhängig, mit Journalisten, Sportlern, Unternehmern. Und dann ist da der allgemeine Eindruck des Lebens in der frühlingshaften Hauptstadt, bevölkert von Touristen aus Kamerun, Tadschikistan, China, viele andere. Mediterrane Unbeschwertheit herrscht, Fröhlichkeit in überfüllten Restaurants, aber auch Ordnung und Sauberkeit beeindrucken, freundliche Polizisten, keine Klima-Vandalen. Als wir vor dem Hauptsitz des Geheimdiensts FSB, einst KGB, der Lubjanka, ein Interview drehen, kommt ein Uniformierter fast entschuldigend auf uns zu, wir möchten doch bitte etwas Abstand halten, um die Privatsphäre der Angestellten, die da durch die Türe kommen, zu schützen. Fast scheint es, als habe der Uniformierte vor den Ausländern mehr Respekt als umgekehrt.

Sind die Russen heute die wahren Europäer? Nach einem Besuch in ihrer Hauptstadt könnte man es meinen.

Bei uns heisst es, Russland sei eine Diktatur unter der Knute eines Kriegsverbrechers. Wenn das so ist, dann können das die Russen und ihre Regierung auf gespenstisch gute Art verstecken. Die Leute machen nicht den Eindruck, als ob sie in einem Gefängnis leben. Ich spreche einen Bekannten darauf an, Sergei, Harvard-Absolvent, Doktortitel in politischen Wissenschaften, Mitarbeiter von Gorbatschow, Jelzin, Putin, seit über zehn Jahren in der Industrie. Gewiss sei Russland ein autoritär geführter Staat, aber ein Rechtsstaat, und die demokratische Legitimität von Putin sei gross, seine Beliebtheit beim Volk enorm. Er gelte hier nicht als Extremist oder Nationalist, sondern als Pragmatiker, Mann der Mitte, kein Ideologe, Realist. Diese Einschätzung bestätigt Valeri, der Übersetzer. Er lebte lange in Deutschland. Machte in Leipzig einen Uni-Abschluss mit einer Arbeit über den Einfluss der deutschen Literatur auf die Dichtung Puschkins. Russland sei eine autoritär geführte Demokratie mit einem starken Präsidenten. Er erinnert sich an die wilden neunziger Jahre, als man auf offener Strasse erschossen werden konnte und Mafiagangs das Land beherrschten. Putin habe Russland selbstbewusster, erfolgreicher und sicherer gemacht, aber der Krieg und die Boykotte gegen Russland würden die autoritären Tendenzen im Staat leider verstärken.

Ein anderer sagt mir, die Sanktionen seien ein Segen für Russland. Endlich müssten sich die Russen etwas einfallen lassen, könnten sie nicht einfach nur ein Loch in den Boden bohren, um Rohstoffe herauszukratzen, die sie dann der Welt verkauften. Bereits 2014, als es in der Ukraine und dann mit den ersten Boykotten losging, fingen die Russen an, ihre Industrie zu stärken, vor allem die Landwirtschaft. Mit Erfolg. Im Büro eines Geschäftsmanns im 51. Stock eines hypermodernen Glasbaus steht ein riesiger Globus. Man muss ihn drehen, um die schiere Grösse Russlands abzumessen. Schwer vorstellbar, dass die Sanktionen des Westens, bevölkerungsmässig ein Achtel der Menschheit, diesem von der Natur so überreich gesegneten Landkoloss viel anhaben können. Wer unten durch muss, rappelt sich auf. Not macht erfinderisch. Wir sehen es ja schon. Die Welt hat es satt, sich vom absteigenden und vielleicht deshalb aggressiver werdenden Imperium USA und seinen Verbündeten herumkommandieren zu lassen.

Der Krieg in der Ukraine: Keiner rechnet mit einer russischen Niederlage, aber alle bedauern, dass es so weit kommen musste. «Hätte Putin warten sollen, bis die Amerikaner ihre Atomraketen nach Rumänien, Polen und, wie geplant, in einer Nato-Ukraine bald auch auf dem Roten Platz aufstellen? Der sanft sprechende Übersetzer Valeri ärgert sich über die abfällige, respektlose und geschichtsblinde Berichterstattung in den deutschen Medien. Harvard-Politologe Sergei erklärt mir, der Entscheid von Kanzler Scholz, deutsche Panzer in den Osten abzukommandieren, habe einen Putin-Booster produziert. Die Unterstützung für den Präsidenten schoss nach oben. Man ist fassungslos über Baerbock und Co, seien doch die Russen nach dem Fall der Berliner Mauer friedlich abgezogen. «Warum haben die Amerikaner ihre Basen immer noch dort, und warum gelten wir, die wir verständlicherweise keine Nato vor der Haustür haben wollen, als die bösen Aggressoren?» Die «militärische Spezialoperation» sei unvermeidlich gewesen. Die Ukrainer hätten jahrelang Zivilgebiete im russischsprachigen Donbass beschossen, unterstützt von den Amerikanern.

Ein früherer Parlamentspräsident in Kiew sagt mir, Selenskyj sei kein Präsident, sondern ein Verbrecher, der sein Land und sein Volk für die Geopolitik der Amerikaner verheize. Anstatt wie versprochen mit den Russen Frieden zu schliessen, sei er ein Handlanger der Ultranationalisten, der Rechtsextremen sowie der amerikanischen Neokonservativen, die mit der Ukraine als Vorschlaghammer gegen Russland kriegen. Neben ihm steht ein früherer Korruptionsbekämpfer des Landes. Für ihn ist US-Präsident Joe Biden an allem schuld. Als Obama-Vize habe er vor zehn Jahren den ukrainischen Generalstaatsanwalt absetzen lassen, der die korrupten Geschäfte von Bidens Sohn Hunter untersuchte. Die beiden Ukrainer reden sich ins Feuer, Selenskyj sei eine Schande für sein Land.

Zurück in Berlin. Am Kurfürstendamm haben Ökovandalen teure Geschäfte verschmiert. Bei der Ankunft mahnt mich ein Zöllner, ich möge mich beeilen, mit dem Taxi in die Stadt zu fahren. Bald würden Klima-Kleber die Zubringerstrassen blockieren. Vielleicht kommt der Hass auf Russland auch daher, dass sich die Russen einfach dem Wahnsinn verweigern, der unsere westliche Welt zugrunde richtet: grüne Ideologie, politkorrekte Meinungsverbote, Gender-Irrsinn, Zertrümmerung der Familie, Verwahrlosung des Rechtsstaats, blinder Gehorsam gegenüber den USA. Sind die Russen heute die besseren, die wahren Europäer? Nach einem Besuch in ihrer Hauptstadt könnte man es fast meinen. R. K.