Tel Aviv

Nie war Israel so gespalten wie in den vergangenen drei Monaten. Hunderttausende demonstrierten im ganzen Land gegen die von Premier Benjamin Netanjahu geplante Justizreform. Sie sei notwendig, um die «aktivistischen» Richter in Schranken zu weisen, begründet Netanjahu die Reform. Kritiker befürchten hingegen einen kalten Putsch, mit dem er der Demokratie einen tödlichen Schlag versetzen wolle.

Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen die Fragen, wer die Richter wählen und welche Rolle der oberste Gerichtshof haben soll. Der Streit darüber zeigt, wie tief der Graben in der israelischen Gesellschaft ist. Auf der einen Seite stehen liberale und säkulare Israelis, die das Gericht als Garanten für Menschenrechte betrachten, auf der anderen Seite ultraorthodoxe und religiös-konservative, die das Gericht als Hindernis für ihre politischen Ziele betrachten.

Um zu verhindern, dass das Land im Chaos versinkt, setzte Netanjahu am Montagabend die Parlamentsdebatten über die Reform für mindestens einen Monat aus. Er wolle eine «echte Gelegenheit für einen Dialog schaffen», sagte er.

Weltwoche: Ehud Barak, wird sich die Lage nach der Verschiebung der Reformdebatte beruhigen?

Ehud Barak: Das lässt sich derzeit nicht voraussagen. Im Prinzip hat der Premierminister damit den dringendsten Forderungen der Opposition und der Protestbewegung zwar nachgegeben, indem er eine Pause einlegt. Aber er bleibt entschlossen, die Reformen schnell durchzuziehen. Der Revolver bleibt auf dem Tisch.

Weltwoche: Welcher «Revolver»?

Barak: Rund zehn Gesetze wurden vom Parlament in erster Lesung bereits gutgeheissen. Sie dienen vor allem persönlichen Interessen Netanjahus und seiner Minister, indem sie Entscheide des obersten Gerichts umstossen. Es geht deshalb nicht nur um den Dialog über die Justizreform, die Netanjahu weiterhin anstrebt, sondern um die Entfernung dieses Revolvers, also um die Annullierung der Gesetze, die in den vergangenen Wochen debattiert wurden. Über kurz oder lang werden die Demonstrationen deshalb weitergehen.

Weltwoche: Immerhin kann die Opposition einen Erfolg verbuchen.

«Netanjahu war korrupt genug, um eine unheilige Allianz mit radikalen Parteien zu schmieden.»

Barak: Nicht die Opposition, sondern vor allem die Protestbewegung. Diese Woche haben sich im ganzen Land 600.000 Bürger an den Demonstrationen gegen die Justizreform beteiligt, das entspricht 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Doch die Atempause ist auch das Resultat von zwei Phänomenen, die Netanjahu nicht kontrollieren kann.

Weltwoche: An welche denken Sie?

Barak: Erstens hat er Israels Wirtschaft an den Rand des Abgrunds gebracht und der Hightech-Industrie geschadet, die rund 50 Prozent der Ausfuhren generiert. Und zweitens hat er das Gefüge der Armee zerrissen. Viele Reservisten weigern sich, zum freiwilligen Dienst einzurücken, weil sie den Absichten der Regierung misstrauen. Diese beiden Phänomene haben Netanjahu zur Kapitulation veranlasst, aber eben nur vorläufig.

Weltwoche: Verteidigungsminister Yoav Galant hatte Netanjahu gewarnt, dass Israels Sicherheit wegen der Verweigerung des Militärdienstes in Gefahr sei. Darauf drohte ihm Netanjahu mit der Entlassung.

Barak: So etwas hat es in der Geschichte Israels noch nie gegeben. Als langjähriger Verteidigungsminister weiss ich, dass nach einer solchen Warnung das Sicherheitskabinett sofort einberufen werden muss. Auch um zwei Uhr morgens, wenn es denn sein muss. Denn unsere Nachbarn sind weder Schweden noch die Schweiz.

Weltwoche: Weshalb hat Netanjahu nicht reagiert?

Barak: Galant hatte gefordert, die Reformdiskussion zu verschieben, weil sie die Sicherheit des Landes gefährde. Eine Verschiebung hätte aber den Zusammenhalt der Koalition bedroht. Netanjahu hat das Überleben der Koalition über die Sicherheit des Landes gestellt.

Weltwoche: Politiker und Offiziere, die während Jahren mit Netanjahu zusammengearbeitet haben, wollen beobachtet haben, dass er sich stark verändert habe. Da Sie ihn seit Jahren kennen: Sehen Sie das auch so?

Barak: (Schmunzelt) Jeder von uns verändert sich im Laufe der Jahre.

«Am Ende werden nur die Iraner entscheiden können, ob sie die A-Waffe wirklich wollen.»

Weltwoche: Sie weichen aus.

Barak: Mein Eindruck ist, dass er sich als Politiker verschlechtert hat. Wahrscheinlich ist er zu lange an der Macht. Und das korrumpiert.

Weltwoche: Können Sie das präzisieren?

Barak: Ich bezweifle nicht, dass die Wahlen im November korrekt durchgeführt wurden. Aber Netanjahu war korrupt genug, um danach eine unheilige Allianz mit radikalen Parteien zu schmieden. Das tat er auch im eigenen Interesse. Gegen ihn läuft bekanntlich ein Prozess, unter anderem wegen Korruptions- und Bestechungsverdacht. In die von ihm gezimmerte Allianz nahm er einen weiteren Minister auf, der wegen Steuerhinterziehung und Bestechung verurteilt wurde und eine Gefängnisstrafe absass. Um sich vor den Konsequenzen des Prozesses abzusichern, nahm Netanjahu zudem eine Gruppe von messianischen Verrückten auf, eine rassistische Partei. Aber wie heisst es doch: Kriminelle halten zusammen, zumindest auf einigen Kilometern. Deshalb setzt die Koalition jetzt alles daran, den Regimewechsel möglichst schnell durchzuziehen, in zwei oder drei Monaten, damit ein Teil ihrer Minister von der Justiz nichts zu befürchten haben.

Weltwoche: Das sind happige Vorwürfe.

Barak: Sie müssen sich nicht auf meine Einschätzung verlassen, da ich Netanjahu seit langem kritisiere …

Weltwoche: … und ein politischer Gegner von ihm sind.

Barak: Die Präsidentin des obersten Gerichtshofes, Esther Hayut, sagte kürzlich, dass Netanjahu keine Justizreform anstrebe. Vielmehr gehe es ihm darum, Israels Justizsystem zum Einsturz zu bringen und die Unabhängigkeit des obersten Gerichts auszuhebeln. Damit würde sich Israel aus der Familie der demokratischen Staaten verabschieden.

Weltwoche: Während Israel über die Justizreform streitet, schreitet Teherans Nuklearprojekt voran. Wo steht es derzeit?

Barak: Der Iran ist ein nuklearer Schwellenstaat, wird sich aber hüten, dies lautstark zu verkünden, aus Angst, dass danach die Sanktionen verschärft würden. Am Ende werden nur die Iraner entscheiden können, ob sie die A-Waffe wirklich wollen.

Weltwoche: Die USA können das nicht verhindern?

Barak: Gegenfrage: Können Sie sich einen amerikanischen Präsidenten vorstellen, der nach «Irak» und «Afghanistan» den Entscheid trifft, während mehrerer Tage den Iran zu bombardieren? Biden würde das sicher nicht anordnen, zumal er dazu ohne die Zustimmung des Uno-Sicherheitsrates keine Legitimation hätte. Ein Nein des Sicherheitsrates wäre so gut wie sicher: China würde das Veto einlegen.

Weltwoche: Könnten gezielte Angriffe auf die Atomanlagen des Iran das Projekt nicht vereiteln?

Barak: Sobald der Iran ein nuklearer Schwellenstaat ist, ist es dazu zu spät. Weder Israel noch die USA können dieses Vorhaben mit chirurgischen Militärschlägen um Jahre zurückwerfen. Die Luftwaffe kann höchstens einige Nuklearanlagen im Iran zerstören, zum Beispiel Lagerhallen, was bloss eine unbedeutende Verzögerung zur Folge hätte. Gleichzeitig wäre eine solche Attacke ein Anreiz für Teheran, das Atomprogramm mit dem Argument zu beschleunigen, dass Israel und die Amerikaner gegen das iranische Nuklearprogramm vorgehen, obwohl es, so würden sie wohl behaupten, lediglich zivilen Zwecken diene.

Ehud Barak, 81, war von 1999 bis 2001 Israels Premierminister. Ausserdem wirkt er als Generalstabschef, Aussenminister und Verteidigungsminister. Von 1997 bis 2001 und von 2007 bis 2011 hatte Barak den Vorsitz der Arbeitspartei Awoda inne.