Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit. Im Feuernebel verschwindet die Wirklichkeit. Es ist schwer, sich ein Bild zu machen. Propaganda hüben wie drüben. Im Ukraine-Krieg wird die Meinungsbildung zusätzlich erschwert, weil sich unsere Medien nibelungentreu an die Verlautbarungen Kiews halten, verlässlicher journalistisch-politischer Flankenschutz.

Ja, die Ukrainer haben im Nordosten einen Überraschungserfolg lanciert. Die Russen seien vertrieben worden, regelrecht geflohen. Amerikanische Strategen wie Ex-General David Petraeus wollen bereits die unwiderrufliche Niederlage Russlands erkennen. Ähnlich dachten vielleicht die Generale Hitlers und Napelons, als sie mit ihren Armeen in Sichtweite der Moskauer Zwiebeltürme standen, siegesgewiss.

Vor diesem Hintergrund ist eine Reportage in der New York Times lesenswert, geschrieben Anfang des Monats, aber immer noch aktuell und sehr detailliert berichtend über die Kämpfe im Südosten der Ukraine, bei der Hafenstadt Cherson. Diese Gegend ist im Krieg gegen Schweden unter Zarin Katharina der Grossen von Fürst Potemkin erobert worden. Sie gehörte über Jahrhunderte zu Russland, ist seit der Auflösung der Sowjetunion dem unabhängigen Staat Ukraine zugefallen.

Die New York Times ist Ukraine-freundlich. Es besteht also keine Gefahr, dass hier russische Propaganda einsickert. Umso interessanter sind die Befunde. Der Korrespondent spricht von «erbittertem Widerstand» der Russen und «kleinen Gewinnen», «gewissen Erfolgen» der Ukrainer bei allerdings nicht näher bezifferten beträchtlichen Verlusten.

Amerikanische Analysten, die der Autor befragt hat, relativieren. Man müsse die ukrainischen Erwartungen «mässigen». Auch die ukrainischen Offiziere äussern sich zurückhaltend. Man dürfe sich nicht zu viel versprechen vor dem Hintergrund eines nahenden «brutalen» Winters. Die Russen hätten das Artilleriefeuer massiv verschärft, auch eine Vielzahl von Raketen würden eingesetzt.

Die Beschreibungen erinnern an den blutigen Schützengrabenkrieg an der Westfront des Ersten Weltkriegs. Die Russen hätten sich in komplexen Stellungen vergraben, aus dem Rückraum donnere die russische Artillerie. Das lässt den Schluss zu, dass der Krieg vor allem für die benachteiligte angreifende Partei, die Ukrainer, sehr verlustreich ausfällt. Da nicht von Nahkampf die Rede ist, kann man davon ausgehen, dass Ukrainer deutlich mehr Verluste haben als die Russen.

Offenbar kann keine Rede davon sein, dass die russische Front einbricht oder die Truppen Putins bereits geschlagen wären. Amerikanische Offizielle zitieren die Regierung Selenskyj. Der Präsident wolle den Krieg anscheinend im Süden gewinnen. Von den Erfolgen im Norden ist keine Rede mehr. Allerdings steckt Selenskyj im Süden, seinem Schwerpunkt, offensichtlich fest.

Der Präsident habe, schreibt die New York Times, den «starken Wunsch», noch vor Wintereinbruch ukrainisches Territorium zurückzuholen. Das würde nicht nur die ukrainische Moral boostern, sondern auch die europäischen Alliierten zufriedenstellen, die im grossen Stil Waffen liefern, Sanktionen verhängen und jetzt mit einer Energiekrise und steigenden Preisen konfrontiert seien als Folge dieses Kriegs.

Selenskyj wolle unbedingt beweisen, sagen gemäss New York Times amerikanische Offizielle, dass die ukrainischen Truppen trotz Rückschlägen den Angriff fortsetzen und dass sich der Krieg nicht festfährt in der Blutmühle starren Artilleriefeuers. Die Zeitung resümiert, der Konflikt habe sich zu einem Zwei-Fronten-Krieg gewandelt.

Im Osten gehe die russische Offensive langsam voran. Die Ukrainer halten, was sie halten können, um Moskaus Streitkräfte auszubluten und ihnen die vollständige Kontrolle der Ebenen und Minenstädte des rohstoffreichen Donbass zu verwehren. Der Süden allerdings sei das Gebiet, die Hauptkampfzone, in der Selenskyj den Krieg zu seinen Gunsten entscheiden wolle. Dort würde der Grossteil der westlichen Waffen und Munition eingesetzt, um die Russen zu vertreiben. Dort allerdings macht die ukrainische Armee am meisten Verluste und am wenigsten Fortschritte.