Putin hat mit seinem Angriff auf die Ukraine genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte, nämlich die Nato auf ihre Linien von 1997 zurückzudrängen, sagt Rose Gottemoeller, die bis vor drei Jahren stellvertretende Generalsekretärin unter Jens Stoltenberg war. Stattdessen sehe sich Putin jetzt mit einem Bündnis konfrontiert, das kohärenter und geeinter sei als vorher, zudem zur Zusammenarbeit entschlossen sei, um der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.

Gottemoeller glaubt nicht, dass Putin sich dadurch in die Enge treiben lasse und die Atomwaffe einsetzen werde. «Das nukleare Säbelrasseln des Kremls hat sich etwas beruhigt», sagt sie und fügt hinzu: «Putin hat die Bereitschaft der Atomstreitkräfte nicht erhöht.» Es gebe jedoch nach wie vor Bedenken hinsichtlich des Einsatzes chemischer oder biologischer Massenvernichtungswaffen.

Und sollte es dennoch zu einem Angriff mit A-Waffen kommen? Die Nato würde nach nicht-nuklearen Mitteln suchen, um auf einen russischen Atomwaffeneinsatz zu reagieren, meint Gottemoeller. So könnten die Nato-Staaten beispielsweise beschliessen, dass eine Reaktion mit Cyberwaffen angemessen wäre. Wie es denn um das Abschreckungspotenzial der Nato stehe, fragen wir sie während des Zoom-Gesprächs. Die Tatsache, dass Russland keine Waffenlieferungen an die Ukraine auf Nato-Territorium angegriffen hat, wertet sie als Beweis dafür, dass das Abschreckungspotenzial der Nato nach wie vor in Kraft ist. Putin wisse zudem, dass sein Land im Falle eines Atomwaffeneinsatzes weltweit isoliert wäre.

Dem möglichen Nato-Beitritt von Schweden und Finnland sieht sie gelassen entgegen. Putin habe auf die Absicht der beiden Staaten, dem westlichen Verteidigungsbündnis beizutreten, zurückhaltend reagiert. Er verlangte lediglich, dass die Nato keine dauerhaften Einrichtungen in den beiden Ländern installiere. Aber, so Gottemoeller, das würde sowieso nicht passieren: «Sowohl Schweden als auch Finnland haben moderne Armeen. Die Nato-Infrastruktur wird dort nicht gebraucht.» Sie glaube deshalb nicht, dass Putin auf eine Aufnahme der beiden skandinavischen Staaten militärisch reagieren würde, nachdem seine Armee in der Ukraine Prügel bezogen hat und heute schwächer ist als vor dem Einmarsch in das Nachbarland.

Das Schweizer Modell der bewaffneten Neutralität könnte für die Ukraine zwar ein gutes Modell sein, sagt die frühere Top-Nato-Frau. Sie hält es aber trotzdem für eine gute Idee, eine künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nicht auszuschliessen.

Gottemoeller geht davon aus, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine nur durch Verhandlungen auf höchster Ebene beendet werden kann. Selenskyj hatte dies von Anfang an vorgeschlagen, doch Putin hatte von Gipfeltreffen nichts wissen wollen. «Nun gibt es aber Anzeichen aus dem Kreml, dass Putin zu Gesprächen bereit sein könnte.» Doch bis diese Gespräche beginnen und eine Einigung erzielt wird, rechnet Gottemoeller mit einem «langen Zermürbungskrieg». Irgendwann werde auch der Westen die Gespräche mit Russland wieder aufnehmen müssen, zumindest über die Begrenzung und die Kontrolle von Atomwaffen, sagt die ehemalige Nato-Spitzendiplomatin und Abrüstungsexpertin. Denn «es liegt nicht im westlichen Interesse, Russland als grossen Pariastaat mit Atomwaffen zu haben».