Handelswege bringen zum Ausdruck, welche Regionen in der Welt geopolitisch eine massgebliche Rolle spielen. In einer Ära, in der sich die Machtverhältnisse frisch ordnen und der pazifische Raum als neues Zentrum gehandelt wird, mischt Russland über die eurasische Landmasse in dieser Zukunftsregion tonangebend mit. Es gibt auch historische Bezüge. Zar Nikolaus II. betrieb den Bau der Transsibirischen Eisenbahn bis 1916. Die Bahnstrecke, die Moskau mit der pazifischen Hafenstadt Wladiwostok verbindet, ist rund 9300 Kilometer lang. Entlang den vierzig Bahnhöfen erschloss sich Russland damit den Fernen Osten.
Nationale arktische Nordostpassage
Doch die jüngsten Machtverschiebungen erfordern weitere Handelswege. Russland will von China nicht allzu heftig umarmt werden, wenngleich die Kooperation zwischen den beiden Nachbarn, die in den sechziger Jahren fast in eine atomare Auseinandersetzung abgeglitten wären, floriert. Die zusätzlichen alternativen Handelswege, die Russland ausbaut, betreffen den Nord-Süd-Verkehrskorridor (NSTC) und den Seekorridor Wladiwostok–Chennai (VCMC) mit ihren jeweiligen Knotenpunkten im kaspischen Hafen von Astrachan und im pazifischen Hafen von Wladiwostok. Indien ist, so gesehen, der natürliche Verbündete, um die chinesische Intensität im Handelsvolumen zu parieren. Der NSTC ist eine interessante Route, um den Nordwesten Russlands mit Indien zu verbinden; Stichwort Moskau–Mumbai. Spiegelgleiches soll für den VCMC aus Osten nach Südwesten gelten.
Im Fall des Nords-Süd-Korridors geht es zudem um ein neues Kapitel in den russisch-iranischen Beziehungen, denn ein wichtiger Teil der Strecke führt über iranisches Staatsgebiet. Das Kaspische Meer, mangels Zugang zum offenen Meer ein See und kein Meer, verbindet und trennt zugleich die Nachbarn, die in der Geschichte öfter Rivalen als Partner waren.
Die Seeherrschaft der Europäer und der USA scheint einen Prozess der Rückabwicklung zu durchlaufen.
Blick in die andere Richtung: Seit dem Sommer 2007, als ein russisches Mini-U-Boot die russische Flagge am Meeresboden in der Arktis hisste und sich dabei auf die Uno-Seerechtskonvention und die Vorgaben zum Kontinentalsockel berief, wurde klar, dass Russland an der Erschliessung der Arktis sehr interessiert ist. Das geht über Offshore-Bohrungen für Erdöl und Erdgas hinaus. Russland will seine Rohstoffe nach Osten auf jene Märkte bringen, die Europa demografisch überlegen sind.
Wenn der russische Erdölkonzern Rosneft das Vostok-Oil-Projekt vorantreibt, dann geht es darum, diese arktische Passage als nationalen und nicht als internationalen Seeweg einzubinden. Die russische Eisbrecherflotte macht die Handelsroute eisfrei. Am Ostwirtschaftsforum in Wladiwostok vom letzten September war dieser Handelsweg ein wichtiges Thema.
So wie der Suez-Kanal die Machtverhältnisse der letzten 150 Jahre widerspiegelte und der globale Erdölmarkt sich am Kriterium «East or west of Suez» orientierte, genauso sind die hier beschriebenen Wege der jetzige Spiegel einer sich nun herausbildenden neuen Ära.
Mit der Globalisierung kam das offshoring, dann wurde mit der Deglobalisierung backshoring aktuell, und nun diskutierte man am World Economic Forum in Davos gar das friendly shoring: die Sicherung von Versorgungswegen über freundlich gesinnte Staaten. Die fragiler gewordenen Versorgungsketten sollen auf neue Fundamente gestellt werden. Als ich 2012/2013 an meinem Buch «Die Zersplitterte Welt – was von der Globalisierung bleibt» schrieb, verwies ich auf die Notwendigkeit, bestimmte Produktionsketten wieder näher an die Kunden zu bringen. Gegenwärtig geht es darum, Antibiotika, seltene Erden und andere Metalle wie auch Halbleiter wieder in Europa oder Nordamerika zu produzieren. Bis es so weit ist, soll friendly shoring dominieren. Wobei: Weder die Politik noch die Wirtschaft kennen die Kategorie «Freundschaft». Es geht primär um die Konvergenz von Interessen.
So erlebt die legendäre Seidenstrasse seit 2013 dank chinesischen Staatsinvestitionen ihre kommerzielle und geopolitische Renaissance. Wichtiger Impuls war die Auf-nach-Westen-Initiative, welche die Förderung von Westchina anpeilte, nachdem lange der Nordosten und Süden des Landes Vorrang hatten. Darauf wurde die «Belt and Road Initiative» (BRI) vulgo neue Seidenstrasse unter Präsident Xi Jinping gestartet. Damit einher ging das Konzept einer «Erneuerung Chinas» und einer chinesisch geprägten Globalisierung. Vom Begriff «Strategie» verabschiedete sich Peking rasch, um niemanden zu erschrecken.
Weg als Ziel
Die Suez-Ära und andere Wasserstrassen weichen so manchem Landweg. Fast scheint es, als würde die Epoche der Seeherrschaft der Europäer und der USA historisch einen Prozess der Rückabwicklung durchlaufen. Das abgedroschene Konfuzius-Zitat «Der Weg ist das Ziel» gewinnt jedoch eine neue Bedeutung.
Karin Kneissl war Aussenministerin Österreichs von 2017 bis 2019 und ist heute als Energieanalystin und Autorin im Libanon tätig.
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Tja, ich als nicht studiertes Grossi, hab das schon prophezeit. Dank der USA und einer irren Europapolitik werden unsere Enkel wohl Hunger leiden. Frag mich nur, wann Europa erwacht
Sie wollen nicht wach werden, sie wollen wieder die gleichen in die Regierung wählen.
Vertiefter Einblick in die Zusammenhänge. Danke
Eine tolle Analyse, jenseits der üblichen Schlammschlacht der Wirtshaus-Narrative.
Dass das Brit. Empire niemals die Eurasische Landmasse in toto beherrschte, ist ein bleibender Stachel im Gemüt der Angelsachsen.
Historisch kann man sagen: Wäre die span. Armada nicht vernichtet worden, sähe die Welt heute anders aus; ob "besser" , bleibt fraglich.
Z. Tatsache, dass Österreich sich leisten kann, jemanden wie Frau Kneissel in den Orient zu mobben, kann man nur neidvoll "tu felix Austria" seufzen.