Von Karl Kraus stammt der Satz: «Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken.» Damit ist eine Malaise deutscher Publizistik benannt.

Es wird jeden Tag unerhört viel geschrieben. Wir stehen vor einem unübersehbaren Angebot an Zeitungen und Zeitschriften. Dazu kommen die sozialen Kanäle, die ebenfalls gefüllt werden wollen. Man sollte einen Jahrmarkt der Meinungen erwarten, aber viele Journalisten sind sich in der Beurteilung der Themen erstaunlich einig.

Boris Palmer ist ein Hetzer, Markus Söder ein furchtbarer Populist. Die Freidemokraten sind ein Haufen verantwortungsloser PS-Freunde, und der Klimawandel ist ein Thema, bei dem es keine Neutralität mehr geben darf. Habe ich etwas vergessen? Ach so, ja, selbstverständlich müssen wir uns vor Männern in Acht nehmen, die eine toxische Arbeitsatmosphäre verbreiten.

Die Grünen haben es zuerst gesehen

Til Schweiger ist stark alkoholisiert zum Dreh erschienen (Stress für die anderen!). Ausserdem hat er nachts einfach Drehbücher umgeschrieben, so dass die Crew am nächsten Tag die Drehpläne über den Haufen werfen musste (noch mehr Stress!!). Lückenlose Aufklärung hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth verlangt. Schade, dass ihr so etwas immer nur einfällt, wenn sie ausnahmsweise mal nicht selbst für einen Skandal in der Kulturwelt verantwortlich ist.

Es ist ein Labsal, wenn man zwischendurch einen Text findet, der nicht zum hundertsten Mal wiederkäut, was schon an anderer Stelle zu lesen stand. Man könnte ja zum Beispiel darauf hinweisen, dass auch Rainer Werner Fassbinder und Billy Wilder ihren Ideen zum Entsetzen der Produktionsleitung freien Lauf liessen. Aber das findet sich allenfalls als Zweispalter im Feuilleton der FAZ, und auch das nur, weil dort mit Claudius Seidl ein Kulturjournalist beschäftigt ist, der noch weiss, was Fassbinder für ein Ungeheuer war.

In gewisser Weise verstehe ich die Wut auf Schweiger. Dass ein Film wie «Manta, Manta» die Kino-Charts anführt und nicht das sensible Doku-Drama über lesbische Liebe in Somalia, macht alle guten Menschen fertig. Aber kleiner Trost: Wenn sie mit Schweiger durch sind, schlägt endlich die Stunde von Nora Tschirner, dem grossen Nachwuchstalent des deutschen Films. Dann werden die deutschen Arbeitsschutzbestimmungen so mustergültig eingehalten, dass Änderungen am Drehbuch nur noch nach basisdemokratischer Abstimmung möglich sind.

Sorry, ich habe mich hinreissen lassen. Eigentlich wollte ich über die Gefahren des Lagerdenkens schreiben. Als ich im Journalismus anfing, dachte ich, ein gewisser Widerspruchsgeist sei Voraussetzung für den Beruf. Da habe ich mich getäuscht, wie ich schnell feststellen konnte. Der Herdentrieb macht auch vor Redaktionsräumen nicht halt. Manchmal habe ich den Eindruck, hier ist er sogar besonders ausgeprägt

Provokationsfreude und Schalk – für mich war Köppel immer der Schweizer Christopher Hitchens.Ich mochte immer Leute, die sich nicht um die Meinung anderer scheren. Beziehungsweise diese zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, ob man die Dinge nicht auch ganz anders sehen könnte. «Letters to a Young Contrarian», heisst ein Buch des britischen Autors und Über-Contrarian Christopher Hitchens, das ich allen ans Herz legen kann, die sich mehr Streitlust wünschen.

Das Dagegensein hat allerdings seine Tücken. Wenn man aus Prinzip immer die andere Seite vertritt, läuft man Gefahr, an einer Biegung herauszukommen, an der man nie herauskommen wollte.

Ich will ein Beispiel nennen, das mich sehr beschäftigt hat. Ein Bekannter von mir ist Roger Köppel, der Chefredaktor der Weltwoche aus Zürich. Wir haben uns 2005 in Berlin kennengelernt, als er für kurze Zeit die Welt leitete. Für mich war Köppel immer die Schweizer Ausgabe von Christopher Hitchens: maximale Provokationsfreude, gepaart mit einem Schalk, der selbst Feinde entwaffnen konnte.

Vor drei Wochen war Köppel in Moskau. Er hat dort eine Reihe von Putin-Getreuen getroffen, darunter Marija Lwowa-Belowa, die Frau, die für die Entführung und Zwangsadoption Tausender ukrainischer Kinder verantwortlich ist. Die Kinderverschleppung ist eines der schrecklichsten Verbrechen in diesem Krieg, der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehl gegen Lwowa-Belowa erlassen.

Das Interview in der Weltwoche beginnt so: «Frau Lwowa-Belowa, Sie sind eigentlich Musikerin, Dirigentin. Was hat Sie bewogen, sich hauptberuflich um Kinder zu kümmern?» Wenn man unterstellt, dass sich auch Kinderschänder um Kinder kümmern, ist «kümmern» das passende Wort. Der internationale Haftbefehl? Eine Farce. Putin? Ein herzensguter Mensch, ein echter Vater Russlands.

Anschliessend war Köppel noch bei dem Chef-Propagandisten und Talkshow-Star Wladimir Solowjow, der den Lesern als «blitzgescheit» und «lustig» vorgestellt wird, ein «russischer Woody Allen». Zufälligerweise habe ich ein paar Programme von Solowjow gesehen. Wenn Solowjow der russische Woody Allen ist, dann war Joseph Goebbels der erste deutsche Stand-up-Comedian mit Millionenpublikum. «Wollt ihr den totalen Krieg?»: eine herrliche Persiflage auf den Fanatismus der Zeit – so wie Solowjows Ausfälle gegen «unwertes Leben» ganz sicher nur die russische Propaganda demaskieren sollen.

Was ist mit meinem Freund Köppel geschehen? So wie er es sieht, hassen die Linken Putin, weil er für alles steht, was sie verachten: Familie, Religion, Männlichkeit, Machtpolitik. Hinzu kommt, dass seit Beginn des Krieges bei keiner Partei die Unterstützung für die Ukraine so ausgeprägt ist wie auf dem ehemals pazifistischen Flügel. Wenn die Leute, die man politisch ablehnt, sich für Waffen starkmachen, kann daran etwas nicht stimmen, also ist man dagegen – das ist die Logik dahinter.

Auch für mich waren die ersten Monate der Ampel nicht einfach. Ich schreibe lieber darüber, welchen Unsinn die Grünen anstellen, als ihnen zuzustimmen. Aber es hilft nichts: Es waren nun einmal die Grünen, die als Erste erkannten, welche Gefahr Putin für Europa bedeutet. Hätte ich darüber hinwegsehen sollen, um mein Feindbild zu bewahren?

Ich habe auch alle Angriffe auf Annalena Baerbock eingestellt. Es ist mir nicht leichtgefallen, wie Sie sich vorstellen können. Ich will meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass es so bleibt. Wenn ich lese, dass der nigerianische Staatspräsident die Benin-Bronzen, die eben noch mit grosser Geste zurückgegeben wurden, zum Privatbesitz erklärt, spüre ich ein leichtes Zucken. Dennoch: Es ist unter anderem der Beharrlichkeit der Aussenministerin zu verdanken, dass die Bundesregierung am Ende die Panzer herausgerückt hat, die sie in Kiew so dringend brauchen.

Zynismus und moralischer Bankrott

Ich glaube, es zahlt sich aus, einen Standpunkt zu haben und den auch dann beizubehalten, wenn es Überwindung kostet. Aus Prinzip dagegen zu sein, führt erst in den Zynismus und dann in den moralischen Bankrott. Ganz ähnlich verhält es sich übrigens mit der Angst vor dem Beifall von der falschen Seite. Wer seine Haltung davon abhängig macht, wer einem zustimmt, ist genauso unfrei wie derjenige, der immer die Gegenposition einnehmen muss.

Mir wird oft unterstellt, dass ich provozieren wolle. Aber das ist ein Missverständnis. Ich würde nie etwas schreiben, hinter dem ich nicht stehen kann. Wenn man schon verprügelt wird, dann doch lieber für Dinge, die man auch so meint – jedenfalls zu 51 Prozent.

Wenn Solowjow der russische Woody Allen ist, war Goebbels der erste deutsche Stand-up-Comedian.Es gibt zwei Grundsätze, an die ich mich halte, seit ich diesen Job mache. Die eine Regel lautet: kein böses Wort über Leute, die ohnehin schon am Boden liegen. Wenn sich alle im Verdammungsurteil einig sind, braucht es nicht noch einen Kommentar von mir. Im Zweifel ergreife ich für den in Bedrängnis Geratenen lieber Partei, wenn es sonst keiner tut.

Die andere Regel habe ich von Harald Schmidt übernommen: keine Witze über Leute, die weniger als 10.000 Euro im Monat verdienen. In dem Fall kann ich nicht garantieren, dass ich meinem Anspruch immer gerecht werde. Als Kevin Kühnert noch nicht SPD-Generalsekretär, sondern lediglich Juso-Vorsitzender war, musste ich eine Ausnahme machen. Aber ich bemühe mich. Sie sehen, auch bei mir ist noch nicht alles verloren.

Jan Fleischhauer zählt zu den meistbeachteten Publizisten Deutschlands. Jede Woche veröffentlicht er eine Kolumne im Nachrichtenmagazin Focus, wo auch dieser Text zuerst erschienen ist. Weltwoche-Chefredaktor Roger Köppel hat Fleischhauer geantwortet, zu lesen auf Focus.de.

Die 3 Top-Kommentare zu "Was ist nur mit meinem Freund Roger Köppel geschehen? Die Russland-Reise des Weltwoche-Chefredaktors beschäftigt mich. Sie zeigt, wie man sich verirren kann, wenn man aus Prinzip immer dagegen ist"
  • erde56

    In einem Krieg muss man davon ausgehen, dass beide Seiten ihre Sicht der Dinge bringen. In Deutschland übernehmen wir einseitig und unreflektiert nur die Sicht der Ukraine. Herr Köpppel bzw. die Weltwoche bemüht sich, beide Seiten einzubringen. Und das soll schlecht sein? Die Meinung unserer Mainstream-Journalisten finde ich nicht nur einseitig, sondern manipulativ und überheblich. Warum Sie, Herr Fleischhauer, sich leider dabei auch so einreihen, kann ich nicht nachvollziehen.

  • rainman

    Herr Köppel ist ein wahrer Journalist, der sich vor Ort seine eingene Meinung bildet. Nicht so ein "Nachplapperi" wie Herr Fleischhauer. Bravo und Danke Roger! Unglaublich, Kinder im Bombenhagel sterben zulassen ist ihn Ihren Augen richtiger? Sie dollhten sich mal aus ihren Stuhl erheben und ihren Job richtig machen...

  • Edmo

    «Es waren nun einmal die Grünen, die als Erste erkannten, welche Gefahr Putin für Europa bedeutet.» Herr Fleischhauer, Sie dürfen Baerbock gerne wieder angreifen. Sie gehen nämlich von völlig falschen Annahmen aus. Die USA hetzen Europa schon lange gegen Russland auf. Baerbock ist nur zu dumm, um die Zusammenhänge zu sehen. Leider geht es Ihnen genau gleich. Dafür, dass die Bundesregierung Panzer in die Ukraine liefert, gehört die ganze Regierung zum Teufel gejagt. Köppel liegt richtig.