Diplomatische Fähigkeiten waren zu allen Zeiten gefragt. Selten aber waren sie es mehr als heute: In der Ukraine tobt ein heisser Krieg; am Horizont taucht schon die Gefahr einer weiteren kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan auf, die Welt rutscht immer tiefer in einen neuen kalten Krieg hinein, der noch weitaus gefährlicher wäre als der erste.

Leider scheinen die Diplomaten unserer Zeit diesen Herausforderungen nicht auch nur annähernd gewachsen zu sein. Ein geradezu deprimierendes Zeugnis dafür lieferte soeben die 59. Ausgabe der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) ab. Schon unter der Leitung von Wolfgang Ischinger war das Treffen seinem nach Ende des Kalten Krieges geäusserten Anspruch, mehr zu sein als eine verkappte Nato-Tagung, immer weniger gerecht geworden.

Woher der Wind weht

Der neue MSC-Chef, Christoph Heusgen, zuvor aussen- und sicherheitspolitischer Berater von Angela Merkel und Deutschlands Botschafter bei den Vereinten Nationen, zeigt sich gänzlich unverhohlen als Stiefelknecht der von Washington dominierten Militärallianz.

Heusgen hat sich das Wohlwollen des grossen Bruders, ohne das es wohl niemand auf den Chefsessel in München schafft, brav verdient. Als Merkel-Berater wirkte er an der Täuschung Putins in Gestalt des Minsker Abkommens mit, und auch als Mitglied im Weltsicherheitsrat der Uno verhielt er sich dem grossen Bruder gegenüber stets botmässig. Ganz im Sinne Washingtons hat Heusgen jetzt die MSC wieder vollends auf ihre ursprüngliche Rolle zurückgestutzt und zu einem Instrument der Propaganda und Mobilmachung des Westens im Kampf um den Erhalt der US-dominierten Weltordnung gemacht.

Woher in München der Wind weht, zeigte schon der Teilnehmerkreis. Während sich die Veranstalter einer «Rekordbeteiligung» von US-Politikern rühmten, fehlten Vertreter der russischen Regierung völlig. «Wir sind uns zu schade, diesen Kriegsverbrechern im Kreml eine Bühne für ihre Propaganda zu bieten», so Tagungsleiter Heusgen. Nicht zu schade war man sich dagegen, schärfsten Kremlkritikern wie Michail Chodorkowski eine solche Bühne zu geben.

Sicherheit in Europa und in der Welt setzt für den neuen MSC-Chef wie für die Scharfmacher Washingtons offenkundig einen Regimewechsel in Moskau voraus. Eine Lösung für den Ukraine-Krieg gebe es «letztlich nur mit dem Ende des Putin-Regimes», so Heusgen. Der vom Kremlherrscher angeordnete «völkerrechtswidrige Angriffskrieg» gegen die Ukraine sei ein «Zivilisationsbruch». Einem Neuanfang der Beziehungen des Westens zu Russland müsse daher eine tiefgreifende «De-Putinisierung» des Landes vorausgehen, «so etwas wie die Entnazifizierung» und das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal nach dem Massenmord an den Juden im Dritten Reich. Im Vorgriff darauf lud Heusgen schon einmal den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs nach München ein.

Neben Russland (und Weissrussland) war in München auch der für die Sicherheit der Welt so wichtige Iran nicht willkommen. Genauso wie – als erste und bisher einzige der im deutschen Parlament vertretenen Parteien – die AfD. Wem es vornehmlich darum geht, die Reihen fest zu schliessen und sich gegen die «Aggressoren» in Moskau, Teheran und anderswo einzuschwören, kann Störenfriede bei seinem Feldgottesdienst nicht gebrauchen.

Scholz schweigt, Macron beschwichtigt

Dass Chinas oberster Aussenpolitiker, Wang Yi, eingeladen war, hatte nur einen Grund: den Druck auf Peking zu erhöhen, sich von der Ukraine-Politik des Kremls klar zu distanzieren. Ein bezeichnendes Schlaglicht dazu lieferte Ex-MSC-Chef Ischinger, als er Wang nach dessen Ansprache ganz undiplomatisch auf offener Bühne empfahl, sich doch bitte schön gleich um die Ecke die Foto- und Videodokumentation des Veranstalters zu russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine anzuschauen.

Eine Lösung für den Ukraine-Krieg gebe es «letztlich nur mit dem Ende des Putin-Regimes», so Heusgen.

Im nächsten Jahr wird wohl auch China in München nicht mehr dabei sein. Denn Wang liess sich nicht beirren, unterstrich erneut die «objektive und überparteiliche» Rolle seiner Regierung in dem Konflikt und kündigte vor seiner Weiterreise nach Budapest und Moskau eine «Friedensinitiative» an, die sich an der Uno-Charta orientiere und die «legitimen Sicherheitsinteressen beider Seiten» berücksichtige. Zugleich appellierte er an Europa, ebenfalls «eine konstruktive Rolle bei der Deeskalation der Situation» zu übernehmen.

Während Bundeskanzler Olaf Scholz dazu konstruktiv schwieg, betätigte sich der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in München zumindest verbal deeskalierend, indem er sich klar gegen eine Politik des Regimewechsels in Moskau aussprach und anregte, sich schon einmal Gedanken über eine künftige gesamteuropäische Sicherheitsstruktur einschliesslich Russlands zu machen.

Heusgen, auch hier voll auf Linie mit Washington und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, hat derweil schon China als den letztlich «gefährlichsten Angreifer» ausgemacht: Wenn die USA und Europa gegen Pekings Einfluss im globalen Süden nichts unternähmen, «sitzen wir bald in unserem Asterix-Land, und China bestimmt die Regeln» in der Welt, so der MSC-Chef. Und dehnt die Angstmache vor Moskau («Putin steht vor der Tür») so um einen Popanz Peking aus.

Die Erzählung von der systemischen Gefahr für die demokratische Welt, die angeblich von den Autokratien in Moskau und Peking ausgeht, dient jedoch nicht nur als Schreckgespenst, sondern auch als Deckmantel für die Auseinandersetzung, um die es in Wahrheit geht: unipolare versus multipolare Welt. So soll möglichst unbemerkt bleiben, dass es die autokratischen Regime sind, die für Multipolarität, also Demokratie und Mitbestimmung auf internationaler Ebene, eintreten, während die Demokratien sich an die bestehende unipolare, auf den Regeln der USA und des Westens basierende, undemokratische internationale Ordnung klammern.

Europas historischen Fehler

Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts hat Europa einen historischen Fehler begangen: Statt die Chance zu ergreifen, eine multipolare Weltordnung aufzubauen, konsequent seine eigenen Interessen zu verfolgen, sich von den USA zu emanzipieren, eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands zu schaffen und die Nato (zumindest als militärische Allianz) ebenfalls aufzulösen, verharrte es im Schlepptau der USA. Allen anderslautenden Versprechen zum Trotz machte es dabei mit, das Bündnis immer weiter nach Osten auszudehnen. Wie es die USA nach dem Ersten Weltkrieg zuliessen, dass die europäischen Siegermächte in Versailles den schon am Boden liegenden Gegner Deutschland weiter demütigten und damit den Keim für den Zweiten Weltkrieg zwei Jahrzehnte später schufen, nahm es Europa in den vergangenen Jahrzehnten umgekehrt hin, dass Amerika, der Sieger des Kalten Krieges, mit Russland ähnlich umsprang. Der Ukraine-Krieg, spätestens aber die Sprengung der Nord-Stream-Gasröhren haben schmerzlich offenbart: Vom einstigen Sicherheitsgaranten sind die USA zum grössten Sicherheitsrisiko für Europa geworden.

Für Russland ist es eine existenzielle Frage, sich in dem Krieg mindestens so weit durchzusetzen, dass seine fundamentalen Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben. Alles, was dahinter zurückbleibt, kann es nicht hinnehmen, ohne als Weltmacht endgültig abzudanken. Für die USA ist die Ukraine dagegen nie eine existenzielle, sondern nur eine Frage der Machtentfaltung gewesen. Weil sie es damit jedoch zu weit trieben, mutierte der Konflikt inzwischen allerdings auch für sie zu einer existenziellen Frage: Verliert Kiew den Krieg, sprich: Territorium, und kann nicht der Nato beitreten – wofür immer mehr spricht –, verliert ihn auch Washington. Amerikas ohnehin schon angeschlagenes Prestige in der Welt, sein Selbstverständnis und Selbstbewusstsein würden bis ins Mark erschüttert. Der weitere Zerfall seiner globalen Hegemonialstellung wäre wohl nicht mehr aufzuhalten.

Selbstbestimmung à la Saarland

Beide Szenarien bergen enormes Eskalationspotenzial und besonders für Europa extreme Gefahren. Nur ein baldiger Friedensschluss, der weder die eine noch die andere Seite als Verlierer dastehen lässt, vermag diese zu bannen.

Die zentralen Elemente dafür liegen längst auf der Hand: Die Ukraine darf weder russisch noch westlich dominiert, sondern muss politisch neutral und wirtschaftlich mit beiden Seiten verbunden sein. Um den Grundsätzen der Uno-Charta, insbesondere dem der territorialen Integrität, gerecht zu werden, könnten die Krim und die anderen besetzten Gebiete zunächst bei Russland bleiben, aber nach einigen Jahren, wie einst das Saarland nach dem Zweiten Weltkrieg, unter internationaler Aufsicht darüber abstimmen, ob es dabei bleiben soll oder ob sie, mit bestimmten Autonomierechten versehen, in die Ukraine zurückkehren wollen.

Eine solche Lösung würde die Ukraine von einem westlichen Vorposten an der Grenze zu Russland und ständigen Unsicherheitsherd zu einer Brücke zwischen West und Ost und einem Testgelände für ein gesamteuropäisches System der Sicherheit machen. Europa könnte so den Fehler, den es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht hat, zumindest teilweise wieder ausbügeln.

Ein positiver Beitrag der MSC zu einem solchen Prozess ist allerdings wohl kaum zu erwarten. Im Gegenteil: Die sogenannte Sicherheitskonferenz ist zu einer Echokammer Washingtoner Verblendung, einem Megafon kalter Krieger und so zu einer Unsicherheitskonferenz degeneriert.

Stefan Baron ist Autor mehrerer Bestseller. In seinem jüngsten Buch, «Ami Go Home! – Eine Neuvermessung der Welt», 2021 bei Ullstein erschienen, mahnt er Europa, sich von den USA zu emanzipieren, wenn es Wohlstand und Frieden auf dem Kontinent bewahren wolle.