Keine Frage: Die Schweiz ist ein politisches Wunder. Darauf sollten wir uns nichts einbilden, aber wir dürfen es in aller Bescheidenheit zur Kenntnis nehmen. Mit der Bundesverfassung von 1848, vor exakt 175 Jahren, gab sich die Schweiz eine neue, moderne, im Zeitkontext revolutionäre Form.

Anders als in den sie umgebenden Staatengebilden wurde die Schweiz – mit Grossbritannien und den Vereinigten Staaten – zu einem seltenen Beispiel für einen funktionierenden demokratischen Nationalstaat. Deutschland und Italien, aber auch Österreich und Frankreich stürzten zeitweise in den despotischen, ja verbrecherischen Nationalismus ab.

An der Schweiz lässt sich ablesen, dass der nationale Gedanke im 19. Jahrhundert eine durchaus fruchtbare Symbiose mit der Idee der Freiheit eingehen konnte, im Rahmen eines demokratischen Rechtsstaats, der die Volksrechte und die Macht der Bürger ins Zentrum stellt.

Wie der Historiker Christoph Mörgeli in dieser Ausgabe herausarbeitet und anhand von Quellen darlegt, war die Bundesstaatsgründung mit ihrer Verfassung eine Manifestation des schweizerischen Unabhängigkeitswillens. Es ging vor allem und in erster Linie darum, sich gegen ein undemokratisches, monarchisches Europa zu behaupten, zur Wehr zu setzen durch eine grundsätzliche Reform an den brandig gewordenen Gliedern der Alten Eidgenossenschaft.

Die Verfassungsväter posierten vor Burgunderteppichen, um den feindselig lauernden Monarchen eine unmissverständliche Botschaft zu übermitteln: Wer es wagen sollte, den jungen schweizerischen Bundesstaat zu bedrohen, anzugreifen, in seiner Existenz zu gefährden, dem droht das gleiche Schicksal wie dem von eidgenössischen Heerhaufen zerschmetterten Burgunderkönig Karl dem Kühnen!

Die Schweiz war schon im damaligen Europa eine Provokation.

Die heilige Inbrunst, mit der sich die Politik auf diesen Geburtstag stürzt, macht misstrauisch.

Es ist immer sinnvoll und berechtigt, sich aus Anlass ihres 175. Geburtstags vertiefter mit dem relativen Weltwunder der schweizerischen Bundesverfassung auseinanderzusetzen. Und es wird interessant zu sehen sein, wie sich die heutige Politik in Bern dieses Themas annimmt, bemächtigt.

Wie bis jetzt ruchbar wurde, sind erhebliche Festivitäten geplant, das Bundeshaus soll zur Ruhmeshalle der Demokratie und der unverbrüchlichen Volksverbundenheit unseres Parlaments ausstaffiert werden. Ausstellungen sind vorgesehen und ein vermutlich nicht mehr enden wollender Schwall an Vorträgen, Reden, Besalbungen und Einbalsamierungen.

Jubiläen sind lehrreich. Sie sagen oft mehr über die Gegenwart aus als über die Vorgänge, die sie vergegenwärtigen sollen. Wir Schweizer neigen zur politischen Skepsis. Nationale Feiertage wie den 1. August begehen wir eher im Kleinen und Privaten. Logisch: Wir Schweizer sind der Staat, sind der Souverän. Wir misstrauen Politikern grundsätzlich, aber besonders im Aggregatzustand ihrer Prachtentfaltung. Wir haben es nicht gern, wenn sich Politiker zu sehr unserer Schweiz bemächtigen, und sei es auch nur unter dem Vorwand eines Verfassungsjubiläums.

Die heilige Inbrunst, mit der die Parlamentarier und Parteien sich nun auf diesen Geburtstag stürzen, macht auch deshalb misstrauisch, weil zuvorderst vor allem jene Politiker auftrumpfen, die in der Vergangenheit begründete Zweifel an ihrer Verfassungstreue haben aufkommen lassen. Schon die Grundsatzartikel ganz am Anfang verpflichten das Parlament, die Freiheit und die Rechte des Volkes zu schützen und die Unabhängigkeit des Landes zu wahren. Das verträgt sich schlecht mit der – zurückhaltend formuliert – sehr kreativen Nichtumsetzung zum Beispiel des Volksentscheids gegen die Masseneinwanderung im Dezember 2016.

Oder was hat es mit der Unabhängigkeit des Landes zu tun, wenn mehr oder weniger alle Parteien mit Ausnahme der SVP die Schweiz schnurstracks der EU unterstellen wollen, also einem auswärtigen Gesetzgeber samt seinen «fremden Richtern»? Die bundesrätlichen Pläne, die Schweiz an die über einem Schuldensumpf wankende, institutionell alles andere als gefestigt erscheinende Europäische Union anzudocken, sind das exakte Gegenteil dessen, was die Bundesstaatsgründer von 1848 mit ihrer Verfassung bezweckten.

Und wie steht es um die immerwährende, bewaffnete und umfassende Neutralität? Sie war der Schweiz am Wiener Kongress, auf ausdrückliches Betreiben Russlands übrigens, als eine Art völkerrechtliche Besiegelung einer im Staatlichen noch nicht erreichten Unabhängigkeit gewährt worden. Sie wird gerade dem Zeitgeist geopfert, umgedeutet unter dem Druck von Emotionen, im Sog von Opportunismus, Mutlosigkeit und Irrtümern.

Wir werden mit anderen Worten den Eindruck nicht los, dass der politische Kraftakt der Verfassungsbeweihräucherung ausgerechnet in Zeiten einer um sich greifenden Verfassungsmüdigkeit, Verfassungsvergessenheit stattfindet. Oder soll der ursprüngliche Geist dieses heldenhaften, zukunftsweisenden und erstaunlich langlebigen Dokuments im Brimborium des Jubels umgefeiert, umgedeutet werden? Mit Sicherheit, aber, und hier liegt das Erfreuliche, dieses Jubiläum bietet Anlass zur Diskussion, zur Standortbestimmung und zur Selbstvergewisserung.

Vielleicht so: Die Verfassung von 1848 bedarf keiner Marathonparty und auch keiner Heiligsprechung. Es reicht, wenn sie unsere Politiker ernst nehmen. R. K.