Sex hat den Anstrich des Anrüchigen längst verloren. Sexualität wird öffentlich gefeiert, oft ins Zentrum gerückt, es herrscht bisweilen eher zu viel Offenheit als zu viel Verklemmtheit. Wir leben in Zeiten von sexueller Freiheit, nicht nur die Möglichkeiten für Schutz und Verhütung sind uns gegeben; mit den Dating-Plattformen stehen endlose Möglichkeiten zwecks Kennenlernens zur Verfügung. Man könnte also annehmen, den Menschen stehe nichts im Weg, um den Ritualen der Fortpflanzung fundiert nachzugehen.

Nun, dem ist anscheinend nicht so. Vor allem jüngere Menschen haben heute viel weniger Sex als früher. Eine Datenerhebung in den USA von 2019 zeigte für 2018 einen absoluten Rekord: 23 Prozent der Amerikaner zwischen 18 und 29 Jahren hatten keinen Sex. Jeder vierte. Unter den 23 Prozent findet sich eine sehr grosse Gruppe von Männern um die zwanzig Jahre. Weiter berichtete die Washington Post, dass sich die Anzahl sexloser Männer unter dreissig Jahren von 2008 bis 2018 fast verdreifacht hat und auf 28 Prozent gestiegen ist. Der Anstieg sei viel steiler als bei den Frauen.

Das sind Zahlen aus den USA, aber es ist ein weltweiter Trend. Wie man liest, zeigen Untersuchungen aus Ländern wie Japan, Grossbritannien und Deutschland dasselbe Muster: Jüngere Leute haben weniger oft Sex. Was ist los? Und vor allem, warum leben immer mehr junge Männer enthaltsam?

Der Autor der Washington Post nennt als mögliche Erklärungen für Letztere Faktoren wie solide Partnerschaften oder Ehe, die die Leute heute grundsätzlich viel später im Leben eingehen. Zweifellos ist im Jahr 2022 der grosse gemeinsame Nenner vieler Menschen nicht mehr der allmächtige Wunsch, schnellstmöglich eine Familie zu gründen, und so ist auch die Ehe in den Hintergrund gerückt, geheiratet wird oft erst in den Dreissigern – was aber nichts an der Tatsache ändert: Verheiratete haben häufiger Sex als Personen, die nicht in einer stabilen Beziehung sind, das belegen diverse Studien.

Auch die Arbeitslosigkeit unter jungen Männern könnte einen Einfluss haben. Über die Hälfte der Arbeitslosen hatte keine stabile Partnerschaft, verglichen mit 32 Prozent der Personen mit einer Arbeit, heisst es in dem Bericht weiter. In anderen Worten: weniger Arbeit, weniger Einkommen, weniger solide Beziehungen, weniger Sex. Das scheint eine Art Kettenreaktion. Als weiterer Faktor wird genannt, dass junge Männer heute länger bei den Eltern leben. Auch das lässt sich nicht abstreiten: Wenn es eine Sexlos-Zone gibt, dann wohl das Hotel Mama.

Und dann wäre noch die Internet-Technologie: Mit dem Aufkommen der Technik kam auch die Vorahnung einer unausweichlichen Veränderung; die Sexlosigkeit ist demnach ein First-World-Phänomen. In unserer Multioptionsgesellschaft sind wir überversorgt mit unterhaltsamem Schnickschnack, der die Abende versüsst: Filme streamen, Social Media, gamen et cetera. Unter dem Einfluss der Technologie ziehen sich junge Menschen vermehrt in ihre vier Wände zurück, soziale Kontakte finden häufig in der virtuellen Welt statt. Und statt den bisweilen anstrengenden Bekanntschafts-Starter Dating auf sich zu nehmen, vergnügt man sich eben zwischen «The Witcher», «Elden Ring» und Instagram-Bildchen; die grosse Sause steigt im eigenen Zimmer. Gesellschaftliche Isolation ist heute nicht nur viel häufiger anzutreffen als früher, sondern auch viel normaler geworden. Eine Folge: Sex steht auf der To-do-Liste weit unten, er wurde zum Statisten degradiert.

Nun kann man fragen, und einige würden so argumentieren: Wieso ist das ein Problem, wenn junge Männer weniger Sex haben? Diese Gruppe hat vielleicht einfach eingesehen, dass man auch ohne sexuelle Beziehung glücklich sein kann. Okay, das klingt an sich vernünftig, würde man die Studien zu Psychologie und Gesundheit nicht kennen, die dem während längerer Zeit sexlos lebenden Individuum keine allzu rosigen Aussichten bescheinigen. Laut der Fitnesszeitschrift Men’s Health kann längere Abstinenz zu Problemen mit der Erektion führen, der Blutdruck kann ansteigen, es besteht ein erhöhtes Risiko für Prostatakrebs. Mit regelmässigem Sex fühle man sich weniger gestresst, denn beim Sex werden Hormone ausgeschüttet, die das Stresshormon Cortisol hemmen. Ausserdem stärke er das Immunsystem, steigere die Leistungsfähigkeit und sorge für einen Anstieg von Testosteron im Blut, so dass ein gesundes Muskelwachstum gefördert werde.

Nicht überraschend ist also der menschliche Körper so programmiert, dass der Geschlechtsakt ein natürliches Heilmittel für das körperlich-seelische Gleichgewicht darstellt.

Eine grössere Gruppe junger, sexloser Männer dürfte aber auch einen Impact auf gesellschaftliche Dynamiken haben, was kulturelle Entwicklungen und Bevölkerungswachstum angeht. Dennoch, man sollte nicht zu viel Dramatik aufspannen; eine Gesellschaft ist stets im Wandel begriffen, Gewohnheiten können sich von Generation zu Generation ändern, und vielleicht zeigt der Sexkompass in ein paar Jahren wieder in eine ganz andere Richtung. Das würde allerdings voraussetzen, dass Luca-Noah von zu Hause auszieht, bevor er vierzig ist.