Die Welt ist kein Höllenloch. Es muss eine gnädige Vorsehung geben. Andernfalls hätte sich die Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte schon mehrfach selber ausgelöscht. Tief in uns drin steckt, muss stecken ein Überlebens-Gen, ein Instinkt, vielleicht auch nur eine dumpfe Ahnung, dass es am Ende eben doch besser herauskommt, wenn wir uns zusammenraufen, zusammenarbeiten, als wenn wir uns umbringen. So deute ich, vorsichtig, den jüngsten Gipfel der grossen Industriestaaten G-20. Wenigstens reden die Amerikaner, die Chinesen und die Russen wieder miteinander; sie unterzeichnen sogar gemeinsame Memoranden. Das Leben setzt sich durch, nicht das Nichts. Das ist das grosse Wunder unserer Existenz, der Lebensfunke, das rätselhafte Geschenk, das alle von uns, ohne das geringste Zutun, mit der Geburt bekommen haben.

Nennt mich naiv, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dass es sich in Gestalt des Menschen selber abschafft. Die gleiche mysteriöse Kraft, die uns ins Leben geworfen hat, treibt uns voran, hält uns über Wasser, hat uns auch die Fähigkeit mitgegeben, uns tastend, tappend und immer wieder irrend für das Gute entscheiden zu wollen, wobei wir im Moment der Entscheidung niemals wissen können, ob wir tatsächlich das Gute oder nicht doch, überzeugt natürlich felsenfest vom Gegenteil, das Böse wählen. Das Vertrackte liegt ja gerade darin, dass das Böse oft das über sich selbst hinausgetriebene Gute ist. Niemals ist der Mensch gefährlicher, als wenn er sich mit dem Allerhöchsten und Allerbesten im Bunde wähnt.

Das wirksamste Ausnüchterungsmedikament gegen die Rauschdroge der Hochmoral ist die Bibel. Das Christentum ist unter allen bekannten die ehrlichste Antwort auf die Defekte unserer Natur, die Trugbilder unseres Gehirns. Kein anderes Buch ist besser geeignet, den Menschen vor sich selber zu retten, indem es ihm schonungslos den Spiegel vorhält. Die Bibel ist ein Buch der Verstörung, der ständigen Irritation. Ihre provokative, erschütternde Kraft liegt darin, dass sie den Menschen von den künstlichen Anhöhen herunterreisst, auf die er sich begibt, um auf die anderen herabzusehen.

«Liebet eure Feinde.» Das ist für mich der absolute Spreng-Satz der Heiligen Schrift. Ist eine grössere Provokation überhaupt denkbar? Jahrhunderte-, ja jahrtausendelang entwickelten die Menschen ihre Gesellschaften, ihre Herrschaftssysteme, ihre Götter und die intimsten Vorstellungen ihrer eigenen Identität anhand von Feindbildern. Die Polemologik des Konflikts beherrscht die Menschen als Gruppen- und Einzelwesen bis heute: «Sag mir, wer dein Feind ist, und ich sage dir, wer du bist.» Doch gerade diese politische Philosophie des Hasses konterten die Urchristen mit ihrem weltumpflügenden Aufruf zur Feindesliebe; dem revolutionärsten Gedanken unserer Geschichte.

Wie weit dieses Ideal von der politischen Praxis und der menschlichen Natur entfernt ist, sollte sich gerade im weiteren Verlauf des Abendlandes zeigen. Die Christen mordeten, plünderten und unterjochten im Namen der Bibel, vom Guten geblendet, das Böse verwirklichend, ihre eigenen Grundsätze vergessend, schliesslich aber, Macht der Idee, immer wieder geläutert und zurückstolpernd auf die Ursprungsspur ihrer eigenen Kultur. Ja, es stimmt, die Christen haben schlimm gewütet, aber die Kraft ihrer Ideale war so gross, unbezwingbar, dass sie nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. Schlussendlich, oft leider erst nach Hekatomben von Opfern und Blut, musste das Böse immer dem Guten weichen, das Dunkel dem Licht.

Das ist der Grund, warum ich auch heute glaube, ja eigentlich überzeugt bin, dass der gegenwärtige Zustand der Welt nicht von Dauer sein kann. Das Chaos der Gegenwart, die Kriege, Konflikte und Frontstellungen haben keinen Bestand. Sie laufen den überwiegenden Interessen zu vieler Menschen in Ost und West zuwider. Gewiss: Die ausgehobenen und eingebildeten Gräben und Gegensätze sind gross. Selbstgerechtigkeit und Moralismus regieren, vor allem auf Seiten der sich aufgeklärt wähnenden Welt. Der Westen will nicht sehen, dass seine wohlmeinenden Einmischungen und Bevormundungen in alle Himmelsrichtungen andernorts als Bedrohung empfunden werden können. Eine merkwürdige Blindheit für Unterschiede, für andere Kulturen und andere Interessen trübt auf westlicher Seite den Blick. Das Ideal der Gleichheit schlägt um in Gleichschalterei.

«Liebet eure Feinde»: Der alte Bibelsatz könnte die Grundlage einer Rückkehr zur Verständigung sein, eine Art geistig-moralische Grundsteinlegung an einer neuen Brücke zwischen Ost und West. Europa ist die Mitte, Deutschland ist, seit alters, eine Mittelmacht, und die Schweiz ist die Mitte der Mitte, der Ort, wo alle willkommen sind, wo sich niemand dafür entschuldigen muss, wer er ist, wo alle mit allen über alles reden, ein von der Geschichte oft verschontes, gebirgig unwegsames Gelände, auf dem eine uralte Tradition der immerwährenden Neutralität Fuss fassen und Früchte tragen konnte. Die Erinnerung an die christlichen Wurzeln unserer Kulturen, verdichtet im unerhörten Satz der Feindesliebe, wäre geeignet, den Bann gurgelnder Kriegsversessenheit, den Todeskult entmenschter Rechthaberei, die schwerbewaffnete Kompromissunwilligkeit, die sich im moralisch sich überlegen glaubenden Westen heute wie eine Viruskrankheit ausbreitet, zu brechen.

Wir müssen wieder lernen, unsere Feinde zu lieben, im Trennenden das Gemeinsame, im Fremden das Vertraute, im Unerfreulichen das Erfreuliche zu erkennen. Es gibt heute einen Konformismus des Negativen, eine neue soziale Konvention der Freudlosigkeit, der schlechten Laune, der moralischen Herabsetzung gegenüber allem, was von den eigenen Vorstellungen abweicht. Die Europäer, die soeben Winnetou und Zapfenlocken auf den Index gesetzt haben, predigen dem Rest der Welt allen Ernstes die Tugenden der Freiheit und der freien Meinungsäusserung, die sie bei sich laufend einschränken. Die Absurdität ist inzwischen dermassen offensichtlich, dass sie nicht mehr zu übersehen ist. Manchmal muss die Welt erst durchdrehen, bis sie wieder zur Vernunft kommt. Ich bilde mir ein, wir hätten den Kipppunkt inzwischen hinter uns. Es geht aufwärts. Ich wünsche Ihnen allen, liebe Leser, eine frohe Adventszeit! R.K.