Die Schweiz ist die älteste und vermutlich erfolgreichste Selbsthilfeorganisation der Welt. Ihr Erfolg bleibt vordergründig rätselhaft. Wie war es möglich, dass dieser rohstoffarme Steinhaufen in der Mitte Europas nicht nur alle Stürme der Geschichte überlebte, sondern darüber hinaus auch zu einem der reichsten Länder des Planeten wurde?
Nichts, aber auch gar nichts deutete zu Beginn auf eine derartige Erfolgsgeschichte hin. Die Eidgenossen waren vor allem damit beschäftigt, nicht unterzugehen, zu überleben, den kargen, steilen Böden in harter Arbeit Ertrag abzutrotzen, diesen zu behalten und sich gegen räuberische Adelshorden unter dem Kommando ruhmsüchtiger Fürsten zu wehren.
Der deutsche Militärhistoriker Hans Delbrück berichtet von der eindrücklichen Kampfkraft dieser frühneuzeitlichen Gebirgsbewohner. Ihre militärische Überlegenheit auf den Schlachtfeldern rührte offenbar daher, dass die Eidgenossen aufgrund ihrer flachen Herrschaftshierarchien mehr Krieger unter Waffen brachten. Die Aussicht auf Beute dürfte die Bergler allenfalls beflügelt haben.
Die Eidgenossenschaft entstand als Kampf- und Schicksalsgemeinschaft im jahrhundertelangen Ringen mit in- und auswärtigen Mächten, dabei untereinander kaum verträglich, eine verkrachte Familie, die erst entstehen und sich zusammenraufen musste. Die zähe Erringung und Behauptung der Unabhängigkeit, der Handlungsfähigkeit bleiben das Leitmotiv dieser faszinierenden Geschichte.
Beeindruckend ist die Entwicklung des Kantons Graubünden, dieser Schweiz im Kleinen, eines rauen Gebirgsstaats, einst politisch zerklüftet durch ehrgeizige Clans, die sich in den Haaren lagen, verfeindet, in Kriege verwickelt, am Ende aber bei aller Zerstrittenheit ein Verbund, der über die Jahrhunderte eine gemeinsame Identität ausprägte – wundersame Einheit in der Vielfalt.
Die Schweiz ist nichts Gegebenes, nichts Feststehendes, sie ist eine Errungenschaft, eine Willensleistung.
Wenn man ein herausragendes Merkmal der Schweiz speziell erwähnen müsste, dann ist es vielleicht diese bündnerische Spezialqualität einer Gemeinschaft, die ihre inneren Differenzen bis an den Siedepunkt auslebt, ohne auseinanderzubrechen, die Freiheit als fast schon explosive Anarchie der Selbstentfaltung zulässt, dann aber doch, irgendwie, zur Ordnung findet.
Es ist kein Wunder, dass in diesem kunterbunten Durcheinander eines trotzigen, selbstbewussten Freiheitstriebs gelegentlich vergessen geht, was die Schweiz zusammenhält. Ein Volk, das so viel Wert auf die Autonomie des Einzelnen legt, wenn auch im Rahmen einer engmaschigen sozialen Kontrolle, begibt sich nur ungern unter das Joch allgemeiner Ideen, geschweige denn Ideologien.
Nicht einmal die gemeinsame Abstammung hilft da weiter. Die Schweiz ist seit Anbeginn multikulti, vielsprachig, konfessionell nicht auf einen Nenner zu bringen, ein Gewimmel unterschiedlicher Mentalitäten und Stämme, die nur deshalb so gut harmonieren, weil sie höflich aneinander vorbeileben. Das Integrationsgeheimnis der Schweiz ist ihre weitestgehende Nichtintegration.
Nur der Wille zur Unabhängigkeit, die Bereitschaft der Schweizer, ihre Freiheit zu leben und zu verteidigen, ihr Schicksal selber in die Hand zu nehmen, hält die Schweiz zusammen. Erlahmt dieser Wille, lässt die Bereitschaft nach, beginnen die Schweizer, die Verantwortung an andere abzuschieben, wird es mit der Schweiz zu Ende gehen.
Schweiz: ja oder nein? Das ist die entscheidende Frage. Jede Generation hat sie aufs Neue zu beantworten. Die Schweiz ist nichts Gegebenes, nichts Feststehendes, sie ist eine Errungenschaft, eine Willensleistung der Bevölkerung, ein politischer Kraftakt, der unsere direkte, unmittelbare Demokratie am Leben hält, die einzigartig ist auf dieser Welt.
Unabhängigkeit bedeutet, dass man seinen eigenen Weg geht, manchmal gemeinsam mit anderen, dann wieder allein, für sich, notfalls gegen Widerstand, oft auch neidisch bis feindselig beäugt und belauert, immer im Wissen darum, dass es besser herauskommt, wenn man für sich selber entscheidet, als wenn man andere für sich entscheiden lässt.
Unabhängigkeit, Föderalismus, direkte Demokratie, immerwährende bewaffnete Neutralität – die institutionellen Stützpfeiler unserer Schweiz und ihrer Unabhängigkeit sind ewig umstritten, sie stehen stets zur Diskussion, in stürmischen Zeiten besonders. Hat die Schweiz, haben die Schweizer nach wie vor die Kraft, an ihrer Schweiz festzuhalten?
Frohe Ostern. R. K.
Die Kommentare auf weltwoche.ch/weltwoche.de sollen den offenen Meinungsaustausch unter den Lesern ermöglichen. Es ist uns ein wichtiges Anliegen, dass in allen Kommentarspalten fair und sachlich debattiert wird.
Das Nutzen der Kommentarfunktion bedeutet ein Einverständnis mit unseren Richtlinien.
Scharfe, sachbezogene Kritik am Inhalt des Artikels, an Protagonisten des Zeitgeschehens oder an Beiträgen anderer Forumsteilnehmer ist erwünscht, solange sie höflich vorgetragen wird. Wählen Sie im Zweifelsfall den subtileren Ausdruck.
Unzulässig sind:
Als Medium, das der freien Meinungsäusserung verpflichtet ist, handhabt die Weltwoche Verlags AG die Veröffentlichung von Kommentaren liberal. Die Prüfer sind bemüht, die Beurteilung mit Augenmass und gesundem Menschenverstand vorzunehmen.
Die Online-Redaktion behält sich vor, Kommentare nach eigenem Gutdünken und ohne Angabe von Gründen nicht freizugeben. Wir bitten Sie zu beachten, dass Kommentarprüfung keine exakte Wissenschaft ist und es auch zu Fehlentscheidungen kommen kann. Es besteht jedoch grundsätzlich kein Recht darauf, dass ein Kommentar veröffentlich wird. Über einzelne nicht-veröffentlichte Kommentare kann keine Korrespondenz geführt werden. Weiter behält sich die Redaktion das Recht vor, Kürzungen vorzunehmen.