Dubai

Am Flughafen Dubai, einem Drehkreuz der internationalen Finanz- und Geschäftswelt, überraschen mich zahllose digitale Plakate. Auffallend viele Länder machen Werbung, preisen sich an, buhlen um die Legionen der Reichen und Erfolgreichen, die in diesem Luftlandestützpunkt, der eingerichtet ist wie ein Einkaufszentrum, die Maschinen wechseln oder aber an einer der vielen Konferenzen teilnehmen, mit denen die Vereinigten Arabischen Emirate Kunden aus der ganzen Welt anlocken.

Schlagartig wird mir bewusst, worum es hier geht. Alle diese Länder, der Mittlere Osten eingeschlossen, möchten sein wie die Schweiz. Sie wollen unseren Platz als Willkommensoase des Wohlstands, setzen alles daran, konzentrieren ihre Energie, zerreissen sich, um das zu erreichen, was wir Schweizer, satt und träge geworden im Reichtum, den unsere Vorfahren erkrampft haben, für selbstverständlich nehmen. Und allmählich, ohne es zu merken, verprassen, kaputtmachen.

Ich fahre ins Hotel. Entlang der Autobahn breitet sich die Wüste aus. Draussen drückt die Hitze, rund vierzig Grad, es ist Morgen, sieben Uhr. Auch Dubai ist, krasser noch als die Schweiz, einer unwirtlichen Natur abgetrotzt worden, Triumph des Willens, Kollektivleistung ungezählter Hirne und Hände. Am Horizont ragen unwirkliche Wolkenkratzer in dunstige Höhe. Die hier lebenden Araber hatten das Glück, oder vielleicht war es auch ein Fluch, dass tief im Boden Öl gefunden wurde.

Die Schweizer haben sich ihren Wohlstand fast ohne Bodenschätze zugelegt. Ihr Öl sind sie selber, der wichtigste Schweizer Rohstoff sind die Menschen, sind die Leute, die aus der Schweiz das gemacht haben, was sie heute ist. Nichts davon ist selbstverständlich. Alles ist vergänglich. Eine entscheidende Frage lautet: Warum ist die Schweiz, die kein Öl, kein Gold, keine Diamanten aus dem Boden kratzen konnte, zu dem geworden, was die anderen heute sein wollen?

Ich frage einen weissrussisch-russisch-ukrainischen Geschäftsmann – was ist eigentlich ein Russe? –, den ich ausserhalb von Dubai treffe, international erfolgreicher Industrieller, der seine Konzerne selber aufbaute, ein Rockefeller des Ostens, Pionier im Feld der globalen Landwirtschaft, die heute, eigentlich ein Weltwunder, 7,9 Milliarden Menschen ernährt. Auch er hat seinen Wohnsitz in die Schweiz verlegt, davor lebte er abwechselnd überall ausser in Russland, in Südfrankreich, London, auf dem Meer. Warum die Schweiz?

Seine Antwort fällt nüchtern aus, kein Alpenglühen, keine Berg- und Heidi-Romantik, alles kalte Rationalität: «Wir haben die Schweiz studiert. Die Schweiz ist stabil, keine Kriege, Neutralität seit Jahrhunderten, Demokratie. Man respektiert das Eigentum, und, sehr wichtig, der Staat lässt dich in Ruhe.» London habe den grösseren Talent-Pool, auch das Schweizer Steuerniveau sei nicht ausschlaggebend gewesen. Letztlich überzeugt habe ihn das politische System.

Das vor über zehn Jahren. Heute überlegt sich der Unternehmer, der mit einer EU-Bürgerin verheiratet ist und dessen Kinder in der Schweiz zur Schule gehen, ob er in der Schweiz bleiben soll. Er fragt sich, ob die Schweiz nach der Übernahme aller EU-Sanktionen noch unabhängig ist. Die Neutralität sei preisgegeben worden. Auf einmal würden Leute allein aufgrund ihrer Nationalität enteignet, ausgestossen. Das sei nicht mehr die Schweiz, wie er, wie die Welt sie kenne.

Ich versuche ihn zu beschwichtigen. Es stimmt: Die Politik hat wegen des Kriegs den Kopf verloren. Emotionen regieren. Putins Angriff auf die Ukraine hat tiefsitzende antirussische Ressentiments, aber auch sehr berechtigte Kritik an einem völkerrechtswidrigen Überfall aktiviert. Der Unternehmer gibt mir recht. Er war einer der ersten international tätigen Russen, die sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen haben. Trotzdem: Seine Enttäuschung über die Schweiz ist gross.

Er steht nicht allein. Zum Abendessen treffen wir einen Unternehmer aus Sri Lanka. Er verfolgt die Vorgänge genau. Er würde sein Geld nicht mehr auf eine Schweizer Bank bringen, sagt er. Die Schweiz habe keine Kraft, ihre Rechtsordnung gegen das Ausland zu verteidigen. Man sehe es jetzt bei den Russen. Weil der russische Staat in Ungnade gefallen sei, nehme man den Russen das Geld weg, ohne rechtliches Gehör, pure Willkür. Es sei ein unglaublicher Skandal.

Wohlverstanden: Putins Krieg, fügt er an, sei ein Verbrechen, aber dass die Schweiz wahllos Sanktionen ergreife gegen russische Unternehmer, auch gegen solche, die keine Verbindung mit dem Regime hätten, sei Sippenhaft, ungeheuerlich, und schade dem Ansehen der Schweiz enorm. Ob denn künftig jedem Angehörigen eines Staats, der bei der EU oder bei den USA in Ungnade gefallen sei, in der Schweiz automatisch das Vermögen eingefroren, weggenommen werde?

Natürlich bemüht man sich, als Schweizer im Ausland solche Abgesänge zu kontern, die verheerende Politik des Bundesrats, den Neutralitätsbruch, die Willkür der Sanktionen, die Preisgabe der Unabhängigkeit herunterzuspielen, aber innerlich muss ich dem Unternehmer aus Sri Lanka recht geben. Wir Schweizer sind uns gar nicht bewusst, was wir hier anrichten, was unsere Regierung an fürchterlichen Botschaften in die Welt ausstrahlt.

Die Schweiz als erdbebensicherer Zufluchtsort – das war einmal.

Vielleicht erleben wir tatsächlich eine Zeitenwende. Die Ära des Freihandels, der Globalisierung, der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe, zum Wohl und Nutzen möglichst vieler Menschen, ist vorbei. Der Nationalismus kehrt zurück, die Welt zerfällt in Blöcke und Einflussgebiete, die sich voneinander abschotten und befeinden. Der Rückfall in ein kriegerisches Mittelalter hat seinen Preis. Hungerkrisen drohen, Inflation. Der Wohlstand geht dahin.

Ja, das alles gab es schon früher und immer wieder. Nur: Früher gab es eine Schweiz, die ihre Neutralität hochhielt und verteidigte. Das war der Grund, warum unser Land seine naturgegebene ursprüngliche Armut überwinden konnte, zum Menschenmagnet und Sehnsuchtsort für Unternehmer wurde, die früher Nestlé oder Ringier hiessen und heute Vekselberg oder Melnitschenko.

Jede Generation muss sich ihres Erbes als würdig erweisen, die Errungenschaften der Vergangenheit nicht bloss verteidigen, sondern mehren. Heute machen wir in der Schweiz das Gegenteil. Wir benehmen uns wie dumpf und dekadent gewordene Zöglinge aus altreichem Haus. Hochmütig, mit eingebildeter Überlegenheit, vielleicht auch nur aus Feigheit und Bequemlichkeit, verspielen wir die Vorteile, für die unsere Vorfahren ihr Leben hingegeben, aufgeopfert haben.

Die Schweiz sei eine «heimliche Grossmacht», schrieb der frühere Weltwoche-Chef Lorenz Stucki. Auch heimliche Grossmächte können absteigen, untergehen. Die Konkurrenz steht bereit. Ein Blick auf die Plakate am Flughafen von Dubai genügt. Noch ist die Frage, wer die neue Schweiz wird, nicht entschieden. Ob die Schweiz ihre über Jahrhunderte hart erkämpfte Stellung behauptet oder leichtsinnig verscherzt, ist unsicherer denn je. R. K.