On vit chez des fous», sie sind verrückt geworden: So aufgebracht haben Frankreichs Diplomaten ihren Präsidenten Emmanuel Macron noch nie erlebt. Ende August waren sie aus aller Herren Ländern zur jährlichen Botschafterkonferenz zusammengekommen.

Intervention in Niger ist vom Tisch

«Verrückt», so Macron, «ist die verschrobene Allianz der sogenannten Panafrikaner mit den Neoimperialisten» (gemeint sind Russen und Chinesen). Als Verräter empfindet er seine Verbündeten. Die Amerikaner haben sich mit den Putschisten arrangiert, die in Niger Ende Juli den gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum absetzten und unter Hausarrest stellten. Seither regieren die Generäle das muslimische Land mit 25 Millionen Einwohnern. Ultimativ forderten sie von Paris den Abzug der Franzosen.

Auch die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Cédéao/Ecowas pochte auf die Rückkehr Bazoums an die Macht und drohte mit einer militärischen Aktion – zu der ihr allerdings die Mittel fehlen. Frankreich hätte sich ihr wohl angeschlossen. Ein fürchterliches Blutbad wäre die Folge gewesen, und die Welt hätte Paris zu Recht den Rückfall in den Kolonialismus vorgeworfen. Ganz abgesehen davon, dass eine militärische Aktion das Völkerrecht verletzt hätte und unweigerlich mit Putins Angriff auf die Ukraine verglichen worden wäre.

Macron, der als erster französischer Präsident nach dem Algerienkrieg geboren wurde, war stets ein Gegner der «humanitären Kriege». Während es bei Nicolas Sarkozy noch um die «positiven Aspekte des Kolonialismus» ging, verurteilte Emmanuel Macron den Algerienkrieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er versprach, mit der «Françafrique» aufzuräumen. Der Begriff ist zum Schimpfwort und Symbol der undurchsichtigen Verstrickungen zwischen Paris und seinen ehemaligen Kolonien verkommen. Frankreich kungelt mit Diktatoren, die ihr Volk ausbeuten. Schwarzgeld alimentiert die französische Politik. Doch der (gute) Wille ist unbestreitbar. Gegen heftigen Widerstand hat Macron die Rückgabe von kolonialistischer Raubkunst aus dem Musée du quai Branly nach Benin angeordnet – und durchgezogen.

Eine Intervention in Niger ist vom Tisch. Selbst Nigeria, das sie am lautesten forderte, krebste zurück. Der Tschad und Togo, historische Verbündete, wenden sich von Frankreich ab. Unterstützt wird es nur noch von Senegal (Macky Sall), der Elfenbeinküste (Alassane Quattara), Benin (Patrice Talon) und Kamerun (Paul Biya).

«Von Washington bis zu den europäischen Hauptstimmen», so Macron, höre er «Stimmen, die zu Zurückhaltung mahnen»: «Aber wie würden wir uns verhalten, wenn sich ein solcher Staatsstreich in Rumänien oder Bulgarien ereignet hätte? Wir haben es mit einem integren, demokratisch gewählten Präsidenten zu tun, der seinen Rücktritt verweigert, sein Leben und das seiner Angehörigen riskiert. Und man sagt uns, wir sollen ihn fallenlassen?»

Ein Chaos in Westafrikahätte katastrophale Folgen,auch für Europa.

Aber es wird auch keine Rückkehr von Bazoum an die Macht geben. Das ist selbst französischen Diplomaten bewusst: «Obwohl Joe Biden seit seinem Amtsantritt eine weltweite Allianz der Demokratien propagiert, hat er sich mit den Putschisten arrangiert.» Nicht nur die Chinesen und die Russen – auch die Amerikaner wollen Frankreich aus Afrika verdrängen. Schon nach dem Genozid in Ruanda profitierte Bill Clinton von der französischen Mitverantwortung. Ruanda ist heute ein englischsprachiges Land.

Ernüchternder ist die fehlende Unterstützung der Europäer. «Die Schweden, die Deutschen und die Italiener», befindet die Zeitung L’Opinion, «sind gegen Frankreich.» Sie zitiert einen Aussenpolitiker der EU, der von «Schadenfreude» spricht.

Von wegen Schadenfreude: Kaum hatte Macron in seiner Ansprache die «Pandemie der Staatsstreiche» gegeisselt, folgte der nächste. Auch in Gabun feierte das Volk den Sturz des Tyrannen. Für ihn konnten weder Macron noch der Intellektuelle Bernard-Henri Lévy (BHL), der seit Jahren als Souffleur bei französischen Regierungen fungiert, die Wagner-Gruppe verantwortlich machen. Und noch absurder wäre es gewesen, den Diktator als mutigen Demokraten zu präsentieren.

Gestürzt wurde Ali Bongo von seiner eigenen Garde. Schon seine «Wiederwahl» 2016 hatte eine blutig niedergeschlagene Revolte ausgelöst. 55 Jahre lang befand sich Gabun im Familienbesitz der Bongos unter französischer Vormundschaft. In Paris und an der Côte d’Azur gehören dem mit Kindern reichgesegneten Clan Dutzende von Luxusimmobilien, gegen deren Erwerb aus dem Geld der Korruption die französische Justiz seit Jahren ermittelt. Gabun verfügt über immense Mangan-Reserven, über sein Erdöl herrscht Total.

Ursprünglich war «Françafrique» ein Projekt der Emanzipation und Kooperation. Sie geht auf die fünfziger Jahre zurück, als François Mitterrand Minister für die Kolonien war. Frankreich garantierte den westafrikanischen Staaten die Personenfreizügigkeit mit dem Mutterland, feste Preise für Landwirtschaftsprodukte und stabile Wechselkurse. Charles de Gaulle kam 1958 erneut an die Macht, um Algerien für Frankreich zu erhalten. Es war ein französisches Departement mit weitgehend assimilierter Bevölkerung. Als Präsident verlieh de Gaulle allen Einwohnern die französische Staatsbürgerschaft. Er hatte begriffen, dass die Ära des Kolonialismus vorbei war. Obwohl Frankreich den Algerienkrieg gewonnen hatte, entliess er das Land in die Unabhängigkeit. In Algier putschten seine Generäle, in Paris entging er einem Attentat der Rechtsextremisten. Der Historiker Pierre Vermeren unterstreicht, dass die französische Kirche das Zweite Vatikanische Konzil dazu brachte, den Islam «nicht mehr als zu bekämpfende Häresie zu betrachten».

Putins Pufferzone am Mittelmeer

Die afrikanischen Antikolonialisten und Nationalisten – Frantz Fanon, Aimé Césaire, Félix Houphouët-Boigny – unterhielten intensive Beziehungen zu Frankreich. Sie prägten den Begriff der «négritude». Im Musée du quai Branly erinnert eine kleine Ausstellung an Léopold Sédar Senghor, Schriftsteller und Staatspräsident von Senegal, Mitglied der Académie française. Sie ist ein Versuch, den Universalismus neu zu bestimmen. Aber noch immer haben die Linken und die Intellektuellen ihre Unterstützung emanzipatorischer Bewegungen, die in totalitäre Regimes mündeten, nicht aufgearbeitet.

«Afrika ist der Kontinent der Zukunft», appellierte Bernard-Henri Lévy nach dem Russland-Afrika-Gipfel «an meine afrikanischen Freunde»: «Euer Platz ist an der Seite der Ukrainer.» BHL und François Hollande wollten auch in Syrien mit der Armee eingreifen. Nach Ansicht der in Syrien verletzten Dokumentarfilmerin Edith Bouvier ging es Putin um eine Pufferzone am Mittelmeer. Er unterstützte Baschar al-Assad, weil er nach dem Arabischen Frühling ein Schicksal wie jenes von Saddam Hussein und Muammar al-Gaddafi fürchtete.

Der nächste Kandidat im antifranzösischen Domino ist Paul Biya, der neunzigjährige Präsident von Kamerun. Ein Chaos in Westafrika hätte katastrophale Folgen, auch für Europa. Libyen und Syrien haben die Einwanderung in Europa dramatisch verstärkt. Gewalttätige Unruhen in Afrika könnten neue Migrationsschübe auslösen. Zwar brach Macron mit der BHL-Doktrin und den Kriegen für die Demokratie. Doch die Einsätze der französischen Armee der jüngeren Vergangenheit rechtfertigt er. Sie erfolgten auf Ersuchen von rechtmässigen Regierungen, französische Soldaten beschützen sie und die Bevölkerungen vor den Dschihadisten: «Wenn wir nicht gekommen wären, würde man heute nicht mehr von Mali, Burkina Faso und Niger reden.»