Er muss es schon lange gewusst haben. Sein 1971 in die Welt gesetztes Kind, das World Economic Forum (WEF), war mit fünfzig Jahren zu reich und fett geworden, um in einer Welt überleben zu können, die im Begriff ist, den Kurs zu ändern. Deshalb beschloss dessen Gründer, der heute 84-jährige Prof. Dr. h. c. mult. Klaus Schwab, eine Kulturrevolution. Er ermordete den von ihm geschaffenen «Davos Man», verkündete einen Neustart des Kapitalismus und verlangte ein nachhaltiges Wirtschaften.

«The Great Reset», der «Grosse Umbruch», hiess seine Bibel für eine neue Welt. Als zweiter Moses wollte er am 10. Mai in Davos vom Berg herabsteigen und seine neuen Gebote verkünden. Das wurde abgesagt. Das in wenigen Tagen beginnende Managementforum Davos, die Olympiade des globalen Topmanagements aus Wirtschaft und Politik, widmet sich einem Sammelsurium bekannter Themen. Allen voran die Ukraine.

Auf der Globalisierungswelle

Eine schlimmere Niederlage hätte sich Klaus Schwab nicht wünschen können. Wo sich sonst die Präsidenten der Grossmächte umarmten, begleitet von den Stars aus Wirtschaft und Politik aus der ganzen Welt, muss er nun die Boxer-Brüder Klitschko aus Kiew und Magdalena Martullo-Blocher begrüssen, die als Bündnerin in Davos ihrem Hausrecht Geltung verschafft hat.

Es kommt kein US-Präsident Joe Biden, der tourt vorzugsweise durch Asien, kein deutscher Bundeskanzler Olaf Scholz, der lässt sich von seinem Wirtschaftsminister und grünen Energie-Grosseinkäufer sowie Waffenhändler an die Ukraine, Robert Habeck, vertreten. Kein Macron in Sicht, kein Draghi aus Italien. Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, die eigentliche Kaiserin Europas, will kommen, darf aber nicht reden. Kein Wunder, denn ihre träge vom Blatt abgelesenen Sermone verdienen kein gebildetes Publikum mit Harvard-Extra.

Es kommt noch schlimmer für Klaus Schwab. Seine Frau Hilde, welche die Kasse der Stiftung führt, kann nur 2200 Gäste verbuchen. Das sind ein Drittel weniger als sonst. Ein schwerer Schlag für die Buchhaltung, der nur dadurch gemildert wird, dass die Kassen des WEF nach fünfzig Jahren beispielloser Erfolge übervoll sind.

Eigentlich ist für Klaus Schwab, der sich als Zuwanderer in die Schweiz immer als «Primero» sah, alles perfekt gelaufen. Sein WEF wurde weltweit einige Dutzend Mal, darunter von Bill Clinton in New York City, nachgeahmt. Keiner schaffte, was ihm vergönnt war: als Privatmann während zwei vollen Generationen die Weltelite um sich zu versammeln. Den Friedensnobelpreis hatte er mehrere Male in Griffweite, aber die Götter in Oslo waren ihm, der Geschäft und Geist so elegant verbindet, wenig hold.

Der freie Westen driftet ins Metaverse ab, während Russland, China und Indien die Zukunft planen.

Sogar die für Schwab und seine Gäste so wichtigen Medien, die globalen, von der Financial Times bis zur New York Times, wie die nationalen in der Schweiz, von der Neuen Zürcher Zeitung bis zum Sonntagsblick, zeigen «Davos 2022» den eiskalten Rücken. Was dort geboten wird, ist unbedeutend, ein Restekorb der Tagesereignisse der letzten Wochen.

Was war der Irrtum von Klaus Schwab? Er wollte sein Kind, den «Davos Man» als Vertreter des Kapitalismus und des Raubtierkapitalismus, ausrotten zugunsten einer neuen Institutionalisierung, die er als postliberal kennzeichnete und die mehr staatliche Kontrolle bedeutet hätte. Das wollten die echten Unternehmer auf keinen Fall; einige hundert Mitläufer des Genfer Propheten spielten da keine Rolle. Sie täuschten eine modische Begeisterung vor, die bei den Hardcore-Kapitalisten kein Echo fand.

Schwab hatte früh erkannt, dass die 1970 bereits sichtbare grosse Globalisierungswelle, die in den letzten fünfzig Jahren Hunderte von Millionen Menschen, vor allem in China, aus der Armut holte und aus hundertfachen Millionären hundertfache Milliardäre machte, eine Institution brauchte, welche die Unternehmer und Spitzenmanager der Welt zusammenführt.

Das Weltwirtschaftsforum war damit geboren. Als 1989 die Sowjetunion zusammenbrach und in Deutschland die Mauer fiel, war der Jubel im «liberalen freien Westen» überschwänglich. Jetzt war das Ende der Zeit, der ewige Sieg der kapitalistisch-liberalen Welt angebrochen. Die Jünger dieser Religion strömten in das darob glückliche Bündnerland. Die grösste Party der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt hatte begonnen.

Nur unter Schnee erträglich

Ich war von Anfang an dabei. Für amerikanische Topmanager, die nicht einmal genau wussten, wo die Schweiz liegt, musste ich Broschüren anfertigen, damit sie sich während ihres Anflugs auf Zürich Kloten und Dübendorf orientieren konnten, wohin sie unterwegs waren. Schweiz und Schweden, Switzerland and Sweden, waren Synonyme, die immer wieder zu Verwechslungen führten.

Bald tauchten die ersten sehr reichen Familien aus Asien auf, die vor ihrem Besuch des WEF eine kurze Geschäftsreise durch die Schweiz machten. Manches Souvenir aus Silber oder Gold erinnert mich an Vorträge, die ich vor extrem reichen Kleinfamilien halten musste, um in einer Stunde «Switzerland, this exceptional country» und seine Funktionsweise zu erklären. Nach Davos, einer in meinen Augen sehr hässlichen Stadt, die nur unter Schnee erträglich ist, zog es mich nie. Partys waren auch nie meine Sache. Häufig habe ich «the chattering classes», wie es die Briten nennen, genossen, aber nur um dieses inhaltslose Gerede zu studieren und mir darauf einen Vers zu machen.

Jetzt war das Ende der Zeit, der ewige Sieg der kapitalistisch-liberalen Welt angebrochen.

Grossartig gedacht

«Improving the state of the world», das sah Klaus Schwab als seine eigentliche Aufgabe, die er mit einer Eleganz in Angriff nahm, wie es keinem Schweizer Bundesrat mehr gelingen sollte. Kurt Furgler, der aber ein schlechter Manager war, vielleicht ausgenommen. Das WEF wurde damit eine perfekte Marketingmaschine. Wer die heutige Organisationsstruktur des WEF studiert, ein Produkt vieler Jahre oft mühsamer Erfahrungen, kann nur bewundernd feststellen: Das ist grossartig gedacht. Aber wurde es auch grossartig verwirklicht? Nein, wo so viel Geld hereinkam, wollte der Geist nicht folgen. Mein früher Lehrmeister, Divisionär Dr. Gustav Däniker, hätte gesagt: «Schwab hat alles richtig gemacht, aber in die falsche Richtung.» Sicher war Schwab sich dessen bewusst, denn einen Funken von Genialität darf man ihm nicht absprechen.

Während die «Davos Men», gekleidet in die besten Stoffe Italiens und Englands, ihre immer neuen Triumphe feierten, versanken die westlichen Staaten, auch die USA, immer mehr in immer tiefere Schulden. Die Nationalbanken, das Fed, die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England, die Schweizerische Nationalbank (SNB) und viele andere, trugen dies mit Tiefzinsen mit. Es wurde übersehen, dass Wladimir Putin Russland, von Jahr zu Jahr mehr, sanierte. Und Xi Jinping machte aus China eine Erfolgsstory sondergleichen. Aus der ehemaligen Kolonie der Briten wurde die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt.

Die USA, nach militärischen Niederlagen in Vietnam, dem sinnlosen Irakkrieg und besiegt von den Afghanen, sich nun selbst bedroht fühlend, riefen das pazifische Jahrhundert aus. Daraus wurde nichts, weil China den pazifischen Osten längst unter Kontrolle hatte. Nun erinnerten sich die Amerikaner der Nato, ihres Verteidigungsbündnisses im Westen. Sie bauten es in Osteuropa aus bis an die Schmerzgrenze Russlands. Zuletzt ging es um die Ukraine, immer ein heissumkämpftes Land zwischen Nord und Süd, Ost und West. Ein Land ohne natürliche Grenzen. Putin zog eine rote Linie. Die USA, die Nato und die EU unterwanderten sie.

Deshalb hat Klaus Schwab in diesem Jahr auf sein Kernthema «The Great Reset» verzichtet. Die globalen Kapitalisten wollten auf ihren Job des Geldverdienens, bekanntlich ein inhärenter ökonomischer Zwang, nicht verzichten. Deshalb steht heuer an der Front als Topredner Nato-Generalsekretär (das ist nicht der «Chef», wie Schweizer Zeitungen gerne schreiben) Jens Stoltenberg. Er muss erklären, warum die Amerikaner keine eigenen Soldaten im Ukraine-Krieg einsetzen wollen, die Europäer aber mit ihnen Waffen und den Wiederaufbau des Landes finanzieren sollen.

Es kommen allerlei Parlamentarierinnen aus der Ukraine, darunter Yevheniya Kravchuk, die sehr erfolgreiche PR-Chefin von Wolodymyr Selenskyj. Sie muss erklären, welche amerikanischen Spindoktoren ihr und ihrem Präsidenten «power» verleihen. Star der Veranstaltung, aber nur per Video zugeschaltet, ist Wolodymyr Selenskyj, ein vormals zweitklassiger Schauspieler und Komiker, der als Kriegspräsident und neuer Churchill des Ostens die Rolle seines Lebens gefunden hat. Für die Ukraine ist dies, als hätte man in der Schweiz Viktor Giacobbo zum Präsidenten gemacht.

Schon zweite Wahl sind Christine Lagarde, die Chefin der EZB, die mit Spaniens Ministerpräsidenten Pedro Sánchez über die Führungsrolle Europas im Ukraine-Krieg sprechen will. Bitte, liebe Leser und Leserinnen, geniessen Sie diese Zeile. Sánchez ist völlig unbedeutend. Lagarde hat in dieser Sache nichts zu entscheiden. Soll sich lieber um den Euro kümmern. Kristalina Georgiewa, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), eine durchaus beeindruckende Dame, will über Digital- und Kryptowährungen sprechen. Was für ein Mist; diese sind soeben zusammengebrochen. Kein vernünftiger Mensch interessiert sich für derlei.

Uns Schweizer beschäftigt, dass neben einigen Bundesräten Gianni Infantino, der Präsident der Fifa, auftreten wird. In seinem Gefolge der Emir von Katar. Katar? Wie hat man Sepp Blatter, den Vorgänger Infantinos, an die Wand genagelt, weil Macron den Katarern französische Flugzeuge und die Fifa-Fussballweltmeisterschaft verkaufen wollte. Ist Katar, dieser Ausbeuterstaat, plötzlich in?

Anlass für Verlierer

Genug der traurigen Spässe. Dieses kommende WEF in Davos wird trotz Ignazio Cassis, der dort unsere verlorene Neutralität beschwören wird, ein Anlass für Verlierer. Todlangweilig, weshalb niemand kommen will. Todlangweilig, weil dort alle über Themen sprechen, zu denen sie wenig zu sagen haben. «New global leadership», das wäre das richtige Thema von und für Klaus Schwab gewesen. Aber daran wagte er sich nicht. Seine Grosskunden, darunter die Bank of America, sind an bester Stelle präsent. Das Metaverse hat einen der auffallendsten Showplätze in Davos.

Ja, der freie Westen driftet in das Metaverse ab, während Russland, China, Indien und mehr als hundert weitere Staaten, die in Davos nicht mehr vertreten sind, die Zukunft planen.

Klaus J. Stöhlker, 81, ist der Doyen der Schweizer Unternehmensberater. Er lebt in Zollikon bei Zürich.