Der Anruf der Weltwoche kam für uns nicht überraschend, denn die Welt stand kopf, und ein ausgeruhter Menschenverstand war erforderlich. Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe war mit der Katalogisierung mineralischer Proben beschäftigt, ich, als sein Sekretär, ging ans Telefon.
Man wolle, so liess die Stimme am anderen Ende der Leitung verlauten, den Video-Blog mit Goethe wiederaufnehmen, um dem in schwierigen Zeiten murrenden Volk wenigstens einen Staatsmann mit Augenmass und Sachverstand vorzuführen. Einen Mutmacher. Einen Pragmatiker. Einen Künstler, der, so hiess es, «seine Nüsse noch zusammenhat». Wie das gemeint sei? «Einer, der noch alle Tassen im Schrank hat.» Hm. Ich ahnte, was gemeint war. Goethe solle eingreifen, bitte untertänigst.
Los, im wilden Sturm
Tatsächlich hatte unser Goethe-Blog auf Spiegel online während eines deutschen Bundestagswahlkampfes vor Jahren in gewissen Kreisen, nun ja, Kultstatus erlangt. Wir hatten den Geheimrat zum Spitzenkandidaten der eilig gegründeten DKP gekürt, der Deutschen Klassiker-Partei, und Wahlkampf unter dem Motto «Mehr Augenmass» betrieben.
Allein, wir schienen tauben Ohren zu predigen. In den Fussgängerzonen von Weimar und Jena hatten wir besonders Jugendliche anzusprechen versucht und ihnen für ihre Stimmen Videorekorder versprochen.
Kurz und unglücklich: Es war ein gigantischer Fehlschlag. Die Zeit war einfach noch nicht reif. Doch ich kann nun sagen: Wir haben die Botschaft der Wähler verstanden. Wir haben gelernt. Ab sofort versprechen wir nur noch Handys und zeitgemässere CD-Rekorder.
Im Übrigen hat sich die Weltlage dramatisch verdüstert, und Goethes Rat ist teurer denn je: Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie, Wassermangel in Spanien und im Rhein, Hungersnöte und Inflation – es ist, als seien die vier apokalyptischen Reiter los, im wilden Sturm.
Das Vertrauen in unsere Politiker, sowohl in die deutschen wie in die der Schweiz, ist gesunken. In Deutschland dilettieren Naturfreunde, sogenannte Grüne, mit utopischen revolutionären Heilsversprechen, in der Schweiz ist man so unvorsichtig geworden, die Neutralität aufzugeben und sich zur Kriegspartei zu machen. Mitte-Parteichef Gerhard Pfister verlangte soeben in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, den Ungerechtigkeiten Russlands und Chinas energischer entgegenzutreten. Ja, hat der Mann mal auf die Weltkarte geschaut?!
Der Geheimrat kennt die Schweiz. Er war, schon bevor er 1775 an den Fürstenhof von Carl August wechselte, zu Besuch in Zürich, um mit Johann Caspar Lavater über die Physiognomie zu disputieren und zu tafeln, und notierte später vergnügt: «Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten.»
Er hatte Zürich lang nicht mehr betreten und staunte nun über die Geschäftigkeit des Städtchens.
Später führten ihn seine italienischen Reisen durch die Schweiz, er liebte die klare Bergluft, die Matten, die Seen. Er staunte über den Schnee am Gotthard, die schäumenden Wasser des Rheinfalls, die gewaltigen Höhen und Täler, die ihn, den Naturforscher, beeindruckten, und dichtete in seinem «Wilhelm Meister», der schliesslich den grossen Gottfried Keller zu dessen «Der grüne Heinrich» inspirierte:
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, lass uns ziehn!
Den Franzoseneinfall von 1798 verfolgte er beklommen, er kannte Napoleon als Leser seines «Werthers», aber auch als Mann mit schlechten Manieren – er liess ihn warten. Später versuchten seine Soldaten in sein Haus am Frauenplan einzudringen. Sie wurden von seinem «Bettschatz» Christiane energisch von der Schwelle vertrieben – zum Dank sollte er sie heiraten.
Bunter Empfangstrubel
Er hatte Zürich lang nicht mehr betreten und staunte nun über die Geschäftigkeit des Städtchens. Läden mit Chronometern, Bekleidungsgeschäfte italienischer Provenienz (Gucci, Armani, Zegna), Café-Häuser, ja, sogar eine «Goethestrasse» hatte man inzwischen eingerichtet. So fühlte er sich unter Freunden, als er am vorletzten Mittwoch das Weltwoche-Sommerfest im Restaurant «Terrasse» am Limmatquai betrat. In seinem ersten Blog auf der Weltwoche-Homepage lässt sich ein Blick auf den bunten Empfangstrubel werfen.
Sicher, man kann einwenden, dass dieser Mann lediglich in Form einer Handpuppe verlebendigt wird. Das allerdings wäre arg kleinlich angesichts der Probleme, die zu bewältigen sind. Im Übrigen, das sagte sein Freund Schiller: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»
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