Die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) hat vor kurzem vorgeschlagen, das geplante Tiefenlager im Zürcher Unterland zu bauen. Jetzt befürchten dort viele Menschen, dass aus dem künftigen Atommülllager Radioaktivität austreten und Mensch und Umwelt schädigen könnte. Die Sorgen sind unbegründet, denn das Entsorgungskonzept garantiert eine extrem hohe Sicherheit.
Dennoch: Aus gesundheitlicher Sicht wäre es wohl wünschbar, dass das Lager nicht ganz dicht wäre. Diese Aussage ist nicht zynisch gemeint und lässt sich gut belegen. 2017 haben die amerikanischen Kernphysiker Jerry Cuttler und William Hannum in einem wissenschaftlichen Aufsatz dafür plädiert, die geltenden Grenzwerte für Radioaktivität zu lockern. Ihre Begründung: «Studien haben gezeigt, dass niedrige Strahlungsdosen die Lebensspanne von Tieren und Menschen verlängern.»
Im Tierversuch ist es eindeutig: Massvolle radioaktive Strahlung fördert die Gesundheit und verlängert das Leben. Die «Mega Mouse Study» etwa, bei der ab 1947 mit Millionen Mäusen experimentiert wurde, ergab eine um bis zu 40 Prozent tiefere Krebssterblichkeit.
Experimente mit Menschen sind aus ethischen Gründen nicht möglich. Dennoch hat man viel Erfahrung mit der Wirkung von Radioaktivität. Demnach sind hohe Dosen schädlich bis tödlich. Tiefe Dosen jedoch scheinen der Gesundheit zu nützen. Nach den Atombombenabwürfen in Japan zeigte sich bei jenen Überlebenden, die nur mässig bestrahlt worden waren, ein tendenziell tieferes Risiko für Leukämie als bei der Gesamtbevölkerung des Landes. Eine Übersichtsstudie von 2011 ergab, dass AKW-Mitarbeiter, die berufsbedingt einer höheren Strahlung ausgesetzt sind, um 40 Prozent seltener an Krebs sterben als die übrige Bevölkerung.
Sechzig Millisievert pro Jahr
Der gleiche Effekt zeigt sich bei Strahlung aus natürlichen Quellen, die sich physikalisch nicht von künstlich erzeugter Strahlung unterscheidet: 1982 kam eine amerikanische Erhebung zum Schluss, dass Menschen, die in erhöhten Lagen leben und damit besonders viel kosmischer Strahlung ausgesetzt sind, weniger oft an Krebs sterben als Menschen im Unterland. 1995 ergab eine ebenfalls amerikanische Studie, dass Lungenkrebs in Gebieten mit hoher Belastung durch radioaktives Radon seltener auftritt. Laut einer Übersichtsstudie von 2008 ist die gesundheitsfördernde Wirkung bei einer Dosis von rund sechzig Millisievert pro Jahr am grössten. Solche Werte wurden nach dem Reaktorunglück in Fukushima in der evakuierten Zone gemessen. Mutmasslich führt mässige Radioaktivität zu einer Art Trainingseffekt für den Körper und steigert dessen Fähigkeit, Erbgutschäden zu beheben.
Früher waren sich die Menschen der heilsamen Wirkung von Radioaktivität durchaus bewusst. In den 1930er Jahren gab es eine ganze Reihe von Produkten, die radioaktiv angereichert waren und mit dem Hinweis auf ihre erhöhte Strahlkraft angepriesen wurden. Angeboten wurden radioaktive Unterwäsche, radioaktive Hautcreme, radioaktive Zahnpasta, ja sogar radioaktive Schokolade und radioaktive Kondome.
Damals warben zahlreiche Kurorte damit, dass ihre thermischen Quellen mit strahlendem Radon versetzt sind. «Lurisia – das radioaktivste Wasser der Welt», pries der gleichnamige italienische Ort sein Mineralwasser an. Es pilgerten zahlreiche Gäste in solche Kurorte, um bewusst in radonhaltiges Wasser zu steigen und gesund zu werden. Gebadet wird an solchen Orten zwar noch immer. Nur wissen die heutigen Kunden in der Regel nichts von der erhöhten Strahlung. Denn heute gelten selbst geringe Radioaktivitätsdosen als des Teufels.
Alex Reichmuth ist Redaktor beim Nebelspalter.
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