Euripides: Medea. Aus dem Altgriechischen von Kurt Steinmann. Mit einem Nachwort von Thea Dorn und Farbillustrationen von Bianca Regl. Manesse. 240 S., Fr. 81.–

Was lässt den Menschen entarten? In seinem Spielfilm «Antichrist» treibt Lars von Trier eine Frau und einen Mann hinaus aus der Zivilisation, hinein in den dunklen Wald. Während diffuser Nebel Baumskelette umwabert und reife Eicheln von Ästen herunterdonnern, werden die Urtriebe freigesetzt: Sexualität und Aggression. Demnach folgt der dänische Regisseur einer Theorie, wonach die Natur es ist, die den Menschen entfesselt. So lässt er denn auch die Frau sagen: «Die Natur ist Satans Kirche.» Und er beschreibt im Weiteren die tiefsitzende Angst des Mannes vor der Kraft der weiblichen Urgewalt. Eine Furcht, die einst unter anderem Hexenverbrennungen zur Folge hatte.

Wie umgehen mit einer Frau, die ihren Trieben freien Lauf lässt? Auch der grosse griechische Dramatiker Euripides dürfte sich das vor über 2500 Jahren gefragt haben. Und gab mit dem von ihm weiterentwickelten Medea-Mythos eine von vielen möglichen Antworten. Die allerdings ebenso wenig eindeutig ist wie die Tragödienfigur selbst. Zig widersprüchliche Interpretationen ranken sich um die «der Ehr beraubte Unglücksfrau» – und man ist trotzdem immer noch nicht fertig mir ihr. Es scheint vielmehr, dass sie sich, je näher man ihr kommen will, umso mehr verrätselt. Und also es niemals mit ihr, der Königstocher, der Betrogenen, der Rächerin und Kindsmörderin, zu einem endgültigen Abschluss kommen kann.

Als böse Zauberin eilt ihr der Ruf bereits voraus. Kreon, der König von Korinth, befürchtet zurecht, dass sie seiner Tochter Glauke etwas antun würde – denn die ist nun die Geliebte von Medeas Ehemann Iason. Der zeigt wegen seiner Untreue keine Reue. Medea tobt, fühlt sich verraten, auch weil sie einst viel riskiert, sogar ihren Bruder getötet hat, um Iason den Raub des Goldenen Vlieses zu ermöglichen. In ihrem Rache-Rausch ermordet sie die eigenen Söhne.

Es scheint vielmehr, dass Medea sich, je näher man ihr kommen will, umso mehr verrätselt.

Wo aber kämen wir hin, wenn eine Mutter aus Zorn auf den Vater ihrer Kinder diese tötet? «Warum lässt sie uns keine Ruhe? Warum können wir sie nicht in Ruhe lassen?», fragt denn auch die Schriftstellerin Thea Dorn in ihrem Nachwort zum «Medea»- Band – eine beeindruckende Ausgabe: Bibliophiler Genuss trifft auf literarische Lust. In der Hand hält man ein 240-Seiten-Werk, mit acht doppelseitigen, eindringlichen Farbillustrationen von Bianca Regl, die mitunter konfrontative Detail- und Nahaufnahmen der imposanten Frauenfigur zeigen und damit auch die bedrohliche Seite von Medeas Wirkmacht deutlich machen.

Sprachlich herausragend: Kurt Steinmann hat das antike Drama aus dem Altgriechischen ins Deutsche neu übersetzt – es liegt daher, auch der Nachvollziehbarkeit wegen, zweisprachig vor. Von der FAZ als «der furchtlose Übersetzer zwischen Scylla und Charybdis» bezeichnet, widmet sich der Schweizer seit den 1970er Jahren den grossen Autoren der Antike sowie der Renaissance, darunter Sappho, Sophokles und Petrarca. Für seiner Übertragung der «Ilias», 2017 ebenfalls bei Manesse erschienen, wurde er mit dem Paul Scheerbart-Preis ausgezeichnet. Alleine an dieser Übersetzung arbeitete er, samt Kommentar, neun Jahre lang.

Nichts weglassen, nichts hinzufügen

Die Frage um die richtige Übersetzung weltliterarischer Werke lässt sich, wie Steinmann erläutert, auf die klassische Formel Friedrich Schleiermachers reduzieren: «Entweder der Übersetzer lässt den Schriftsteller möglichst in Ruhe und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er lässt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.» Die vorliegende Übersetzung der «Medea» hat dokumentarischen Charakter, das bedeutet, der Originalsprache wurde der Vorrang gegeben. Steinemann sieht sich in der Tradition Wolfgang Schadewaldts, bekannt für seine Odyssee-Übertragung, wonach es darum geht, das Ursprungswerk möglichst unverfälscht in eine andere Sprache zu transponieren. Also: Nichts weglassen, nichts hinzufügen.

Und dabei das Kunststück schaffen: Dem Wesen der übersetzten Sprache gerecht werden. Ohne ihr allzu schnell nachzugeben. Steinmann nennt etwa die beibehaltene Formulierung «wie stier ihr Auge auf sie blickte». Geläufiger wäre «starr» gewesen, doch er blieb wieder so dicht wie möglich am Ursprung dran und entschied sich dafür, das im griechischen Partizip enthaltene tauros – «Stier» – abzubilden. Auch der griechischen Syntax wurde im Deutschen möglichst entsprochen.

Diese kluge Art der Übersetzung schafft eine frappierende Nähe, denn sie hat auch in Medea selbst ihre Abbildung. Die Steinmannsche Präzision fördert zutage das Rohe, das nicht nur Gewalt meint, sondern auch das Originäre. Medea steht für eine Frau, die sich nicht bezwingen lässt. Und keine Klischees erfüllen will: «Dreimal lieber nämlich in die Front der Kämpfer möchte ich mich reihen, als gebären nur ein einzig Mal». Sie ist unbequem, gebildet, souverän; viele Feministinnen sprechen ihr trotzdem eine Vorbildfunktion ab. Doch das Böse ist auch weiblich. Vielleicht werden wir erst dann mit Medea fertig, wenn man das endlich anerkennt. Bis dahin wird sie weiter töten müssen.