Vor dem Start des Tennisturniers steht der umstrittene Star Novak Djokovic wieder mal im Fokus», schreibt das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). «Umstrittener Tennis-Star Djokovic geht’s auf der Strasse bescheiden an», teasert der Blick ein Video an. «Der umstrittene Jan Josef Liefers als Rechtsmediziner Karl-Friedrich Boerne ermittelt seit 2002», Bildunterschrift Tagesspiegel. «Studenten machen mobil: Uni sagt Vortrag von umstrittener Biologin ab», titelt NTV.

Es ist unter manchen Medien Usus geworden, Personen mit Ansichten, die von grossen Teilen der Gesellschaft getragen werden, in einem Ton moralischer Schicklichkeit als «umstritten» zu bezeichnen. Was hat der Tennisstar denn monströs Strittiges verbrochen? Als junger, gesunder Athlet, der seinen eigenen Körper kennt wie kein Zweiter, ist er skeptisch gegenüber einer Impfung – wie viele andere Athleten auch. That’s it. Mehr war es nicht.

Im zweiten Fall war Liefers Mitinitiator von hallesdichtmachen, einer Aktion, bei der Schauspieler satirische Videos zum Corona-Management der Bundesregierung veröffentlicht hatten. Keine Frage, die Aktion war umstritten – die einen fanden sie geschmacklos, die anderen grossartig –, nur, der Mensch Liefers ist es deswegen noch lange nicht.

Im dritten Fall ist vergangenen Sonntag ein Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht mit dem Titel «Geschlecht ist nicht gleich (Ge)schlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt» an der Berliner Humboldt-Uni abgesagt worden. Eine Gruppe Studenten kündigte wegen angeblicher «Transfeindlichkeit» Protest an und forderte, man dürfe ihr keine Bühne geben.

Die Uni sagte den Vortrag wegen «Sicherheitsbedenken» ab. Gewiss, die Überzeugung, nach der es gemäss den biologischen Grundlagen der Fortpflanzung zwei Geschlechter gibt und es zwischen dem sozialen Geschlecht (Gender) und dem biologischen (Sex) zu unterscheiden gilt, ist in der Trans-Community und unter ihren Sympathisanten empfindlich umstritten. Doch sind es Ansichten, die den gemeinsamen Konsens einer grossen Mehrheit der Gesamtgesellschaft widerspiegeln.

Wenn sich also einige Studenten an der Äusserung stören, es gebe zwei Geschlechter, und deshalb gegen den wissenschaftlichen Vortrag einer Biologin protestieren, wäre dann diese Überschrift nicht realistischer: «Umstrittene Studenten machen mobil: Uni sagt Vortrag von Biologin ab»?

Je grösser die Gruppe ist, die eine Meinung, Aktion oder Person anficht, desto eher rechtfertigt sich ihre Bezeichnung als «umstritten». Es gibt wohl keinen exakten Messwert, aber wenn zum Beispiel eine Aussage bei 30 Prozent der Weltbevölkerung Einigkeit und Zustimmung findet und bei den restlichen 70 Prozent auf Zurückweisung stösst, ist das «umstritten»-Etikett für Letztere, würde ich meinen, eine einigermassen verzerrte Darstellung der Realität.

Nun ist es jedem selbstverständlich unbenommen, Personen als «umstritten» zu klassifizieren, gegen die eine Minderheit Zweifel ausdrückt. Der Logik dieser Methode entsprechend ist dann aber alles und jeder umstritten, denn es findet sich immer jemand, der eine andere Meinung vertritt. Vor allem aber, und wir kommen zum Hauptpunkt: Die Umschreibung «umstritten» wird häufig nur für eine Seite angewandt.

Oder haben Sie in den Mainstream-Medien von der «umstrittenen» «Fridays for Future»-Bewegung gelesen, als diese neulich eine Musikerin wegen ihrer Dreadlocks ausgeladen hat? Von der «umstrittenen» Annalena Baerbock, als ihr Buch nach Plagiatsvorwürfen nicht mehr gedruckt wurde? Von dem «umstrittenen» Karl Lauterbach, dessen Gang in Sachen Corona-Massnahmen von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung kritisiert wird? In diesen Fällen gelten nie die Personen als umstritten, sondern, wenn überhaupt, ihre Aktionen.

Häufig sind es News-Artikel (und nicht Meinungsstücke), die das Adjektiv «umstritten» in Titel, Lead oder Bildunterschrift packen. Es ist die «Light»-Variante einer Vorverurteilung der Person, deren Rechtschaffenheit mit einem einzigen Wort mal eben kurz um ein paar Punkte abgewertet oder die zumindest unter Schuldverdacht gestellt wird, je nach Lesart. Gleichzeitig wird damit das Publikum von Beginn an psychologisch in eine bestimmte Richtung beeinflusst. Wer nämlich keine Twitter-Diskussionen verfolgt, von dem Menschen noch nie etwas gehört oder schlicht keine Meinung über ihn hat, wird zu einer unbewussten emotionalen Distanzierung verleitet, noch bevor er zum eigentlichen Inhalt des Beitrages gelangt.

Es ist einfach: Steht «umstritten» vor einer Person, drückt es in vielen Fällen die versteckte Meinung des Autors aus. Leute, die in seinem Sinne denken oder handeln, sind kaum jemals «umstritten», während «umstritten» genannt wird, wessen Handlungen oder Aussagen er ablehnt.

Der Wahrheitsgehalt von Beiträgen, die einem Individuum ein «umstritten» zur Seite stellen, kann darum getrost als umstritten bezeichnet werden.