Nach der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine konnte sich der Westen nur auf die Seite Israels stellen, Opfer der Massaker und Terroranschläge der Hamas. Und in den letzten Tagen hat man bereits begonnen, von einem «Angriff auf den Westen selbst» zu sprechen, von einem Krieg, der allen westlichen Ländern von jemandem erklärt wurde, der nicht einmal mehr als «Feind», sondern als Bande «menschlicher Tiere» gilt.

Wie der israelische Verteidigungsminister die Mitglieder von Hamas definierte, handelt es sich um eine Gruppe wilder Wölfe oder gar von Ratten, die ohne Skrupel getötet werden müssen, da ihr Leben – nicht einmal mehr menschlich – kein Recht mehr darauf hat, gelebt zu werden. Wenn man im Feind nicht mehr einen Menschen erkennt, wird jede Gräueltat möglich.

An diesem Punkt stellt sich jedoch die Frage: Für welchen Westen kämpfen wir denn, und welche «Werte» vertritt er? Wohl nicht für denjenigen, der die «Menschenrechte» verteidigt und sich um die «Hegung des Krieges» bemüht, wenn unsere «Feinde», einschliesslich der Zivilisten, jetzt zu blossen Kakerlaken geworden sind, die ausgerottet werden müssen.

Nicht für den Vertreter der «demokratischen Werte», wenn man die politische Situation in Israel bedenkt. Seltsam, dass sich heute niemand mehr daran erinnert, wie vor nur drei Monaten in vielen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen von Israel als einer «Diktatur» gesprochen wurde, nachdem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu dem obersten Gerichtshof ein Ende gesetzt hatte und es somit praktisch unmöglich machte, seine Macht einzuschränken.

Aber jenseits von Netanjahu und Israel sind unsere eigenen Demokratien vielleicht inzwischen doch nur zu «Fassadendemokratien» geworden, um es nach Habermas zu sagen, die immerhin die Wahlfreiheit gewähren, wohl wissend jedoch, dass nunmehr die Parlamente kaum noch von Bedeutung sind. Demokratien sind lediglich eine vorübergehende Linderung des Leidens in eigentlichen Autokratien, aber nicht mehr.

Wir kämpfen sicher nicht für denjenigen Westen, der auf den «Werten» der sogenannten jüdisch-christlichen Wurzeln basierte, die in der heutigen Gesellschaft weitgehend unterminiert werden. Worüber reden wir also? Was ist dieser Westen, den wir verteidigen wollen?

Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen. Oder besser gesagt, wir wissen, dass wir für einen Westen kämpfen, der sich als «demokratisch», als «beste aller möglichen Welten», als Garant für die Achtung der Menschenrechte legitimiert, ohne dass dies der Fall wäre. Aber nur wir selbst haben diesen Anspruch, der doch heutzutage von niemandem sonst anerkannt wird. In Wahrheit ist der Traum der Amerikanisierung der Welt zu Ende gegangen oder eigentlich zum Albtraum geworden. Wir wollen es einfach nicht wahrhaben, dass wir in Richtung einer multipolaren Welt gehen.

Es ist kein Zufall, dass Israel heute, wie in der Vergangenheit auch, der Aussenposten dieser westlichen «Arroganz» im Nahen Osten und der engste Verbündete der Amerikaner ist: Denn die Vereinigten Staaten sind in Wirklichkeit nichts anderes als eine säkularisierte Version des «auserwählten Volkes».

Sie sind lediglich die wahren Erben Israels, diejenigen, die das «gelobte Land» in der neuen Welt erreicht haben. «Wir Amerikaner» – schrieb Melville – «sind das auserwählte Volk, - das Israel unserer Zeit. Wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten dieser Welt.» Diese Idee der «Auserwählung» hat – wie ein Karstfluss – die Geschichte des Westens durchquert, sich Seite an Seite mit dem katholischen Ideal des Universalismus entwickelt, eine Wahrheit vertreten, die grundsätzlich für alle gedacht ist, um sich schliesslich im amerikanischen Imperium zu vollenden.

Der heutige Westen ist jedoch nicht der Sohn des römischen Katholizismus, sondern des amerikanischen «Imperiums des Guten», das sich nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig in Europa durchgesetzt hat. Aus diesem Grund kann Israel nicht angegriffen werden: weil es nichts anderes als die Vereinigten Staaten ist.

Es ist nichts anderes als das Land, dessen geistige Erben die Amerikaner sind. Aber welche Art von Gesellschaft verspricht dieses «offensichtliche Schicksal», das wir auch heute noch verteidigen? Unsere heutige Gesellschaft ist nichts mehr als das sterile Banner eines weitverbreiteten Nihilismus, der Entleerung jeglichen Wertes, einer destruktiven Finanzwirtschaft, einer Technik mit dem alleinigen Zweck der Selbststeigerung.

Wofür kämpfen wir, bitte schön?

Prof. Dr. Dr. h. c. Paolo Becchi ist Ordinarius für Rechts- und Staatsphilosophie an der Università degli Studi di Genova. Von 2006 bis 2017 lehrte er an der Universität Luzern.

Die 3 Top-Kommentare zu "Die arrogante Heuchelei des Westens: Nach der uneingeschränkten Ukraine-Unterstützung hat sich der Westen sofort auf die Seite Israels gestellt. Wissen wir überhaupt noch, für welche «Werte» wir kämpfen?"
  • hanspeter_peterhans

    Fantastischer Artikel, bitte mehr davon!

  • sandor sz

    Werte, was ist das denn? ich meine hier im Westen...

  • Spencer

    Wir wissen nicht mehr was wir heute vor einem Monat zum Mittag verspeist haben und da soll sich noch einer an die eigenen Werte errinern?? Ist einfach so, da der Mensch alles andere vorzieht als sich selbst. Social Media lässt grüssen