Dieser Beitrag erschien erstmals in der Weltwoche-Ausgabe vom 2. März 2022.

Beim Ausbruch des neuen europäischen Krieges hat der Bundesrat, gestützt auf die Beschlüsse der Bundesversammlung, den fremden Mächten zur Kenntnis gebracht, «dass die Schweizerische Eidgenossenschaft mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die Unverletzlichkeit ihres Gebietes und die Neutralität […] aufrechterhalten und wahren werde». Das Aufgebot der Grenzschutztruppen und kurz darauf die allgemeine Mobilmachung der Armee bekräftigten den in der Botschaft des Bundesrates vom 30. August ausgedrückten schweizerische Willen, «die Unabhängigkeit, Unversehrtheit und Sicherheit des Vaterlandes gegen jeden fremden Angriff, komme er, woher immer, mit allen Mitteln zu schützen». Mit diesen Massnahmen verbunden war die Wahl des Oberbefehlshabers der schweizerischen Armee, der auf die Wahrung der «Ehre, der Unabhängigkeit und der Neutralität» des Landes vereidigt wurde. Seither befindet sich die Schweiz im Zustand der bewaffneten Neutralität.

Bedingungslos gleiche Behandlung

Die Neutralität der Schweiz ist uneingeschränkt, absolut. Sie unterliegt keinen Vorbehalten, keiner Differenzierung mehr. […] Auf die so wiederhergestellte uneingeschränkte Neutralität der Schweiz kann nicht der Schatten eines Zweifels oder einer Zweideutigkeit fallen. Sie bedeutet die bedingungslos gleiche Behandlung beider Parteien in einem kriegerischen Konflikt durch die neutrale Schweiz.

Diese bedingungslos gleiche Behandlung der gegenwärtigen Kriegsparteien wird im Zustand der bewaffneten Neutralität der Schweiz durch die militärischen und sonstigen Massnahmen der Behörden gesichert. Hinter diesen Massnahmen der Behörden steht der Wille des gesamten Schweizervolkes. Die unbedingte Wahrung der Neutralität ist für das Schweizervolk eine Selbstverständlichkeit, die durch den Umstand, dass das gleiche Schweizervolk daneben auch seine bestimmten Meinungen über den Krieg hat, gar nicht berührt wird. Es ist deshalb ganz unzulässig, wenn gelegentlich in der ausländischen Presse die anerkannte Korrektheit und Unparteilichkeit der schweizerischen Regierung und die «Stimmung» im Volke oder die Haltung der Presse in einen Gegensatz gestellt werden.

Die schweizerische Regierung handelt im Auftrag des Volkes für den schweizerischen Staat in der gewissenhaften Beobachtung der Rechte und Pflichten der Neutralität. Der schweizerische Staat ist neutral und wird – unabhängig von Stimmungen, Meinungen und Sympathien im Volke – neutral bleiben. Wer im Auslande diese unbedingte Neutralität unter Berufung auf solche Stimmungen, Meinungen und Sympathien in Zweifel zieht, versucht sich in jener willkürlichen Ausweitung des Neutralitätsbegriffes, die von schweizerischer Seite schon früher als unstatthaft und gefährlich zurückgewiesen worden ist. Jeder derartige Versuch wird heute in der Schweiz nicht mehr Erfolg ernten, wohl aber mit besonderem Misstrauen beobachtet werden. […]

Tägliche Übung der Bürgertugenden

Seit dem Abschluss des deutschen Feldzuges gegen Polen und mit dem jetzt jederzeit möglichen Ausbruch des Krieges im Westen ist die internationale Spannung auf den höchsten Grad gestiegen. Der schweizerischen Staatsführung und Armeeleitung legt diese entscheidungsschwangere Periode der Spannung die Verpflichtung zur grössten Wachsamkeit auf. Das Schweizervolk selbst wird sich für alle denkbaren Entwicklungen und Ereignisse am besten wappnen, indem es seine unzweifelhafte Entschlossenheit zur Wahrung und Verteidigung der Unabhängigkeit und Neutralität des Landes mit der täglichen Übung der Bürgertugenden der Besonnenheit und Selbstdisziplin verbindet.

Willy Bretscher (1897–1992) war NZZ-Chefredaktor. Dies ist die gekürzte Fassung seines Leitartikels «Die schweizerische Neutralität», erschienen am 17. Oktober 1939, nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.