Am gleichen Tag, an dem die bundesdeutschen Medien die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern für die Schlachtfelder der Ukraine begrüssen, bejubeln sie die Oscar-Nominierung für den deutschen Anti-Kriegsfilm «Im Westen nichts Neues».

In Deutschland ist dies kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil.

Nach zwei verlorenen Weltkriegen will Deutschland endlich einmal auf der Seite der Sieger stehen. In keiner Diskussion über den Beginn des Ersten Weltkriegs dürfte man erwähnen, dass das damalige Deutsche Reich nur solidarisch mit seinem Partnerland Österreich-Ungarn sein wollte. Warum sollte man auch keine militärische Unterstützung leisten? Schliesslich ging es nur um eine regionale Militäroperation in Bosnien. Solidarität hiess damals Nibelungentreue.

109 Jahre später droht Deutschland erneut mit guten Absichten in den Ukraine-Krieg hineingezogen zu werden. Immer mehr erfüllt die Bundesrepublik Kriterien, um als Kriegspartei eingestuft zu werden.

In den Medien allerdings kommen nur Verteidigungspolitiker, Militärhistoriker und Völkerrechtler zu Wort, die aufgrund von Rechtsgutachten und Forschungsergebnissen aus Kriegsarchiven und der Auswertung von Militärliteratur genau wissen, dass Deutschland angeblich keine Kriegspartei sei:

Deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine? «Nein, die Waffen bedienen die Ukrainer.»

Deutsche Munitionslieferungen? «Die ukrainische Armee verschiesst doch die Munition.»

Haubitzen der ehemaligen NVA der DDR, die der estnischen Armee, und NVA-Schützenpanzer, die Tschechien übergeben wurden und nun in der Ukraine eingesetzt werden? «Entscheidung der Partner.»

Nato-Partner geben an die Ukraine Waffen ab, welche den Partnern von Deutschland ersetzt werden? «Das ist nur ein Ringtausch. Die Waffen setzt die ukrainische Armee ein.»

Ausbildung von Ukraine-Soldaten auf deutschen Truppenübungsplätzen für den anschliessenden Einsatz? «Deutschland bildet nur aus.»

Reparatur von im Kampf in der Ukraine beschädigten Artilleriegeschützen durch deutsche Unternehmen? «Die Instandsetzung erfolgt in Polen und Deutschland und nicht in der Ukraine.»

Direkte Bestellungen der Ukraine bei deutschen Rüstungsunternehmen? «Das sind private Firmen und private Geschäfte.»

Finanzielle Hilfe für die Ukraine, damit die Ukraine mit diesem Geld Militärgüter kaufen kann? «Nur Finanzhilfe.»

Übermittlung von Aufklärungsdaten von deutscher Seite für Artillerie- und Drohnenangriffe der Ukrainer? «Wie die Ukrainer die Daten nutzen, entscheiden die selbst und unabhängig.»

Angemerkt wird lediglich: In Bundeswehruniform sollten deutsche Soldaten in der Ukraine nicht in den Kampf eingreifen. Dann würde man Kriegspartei werden. Alles sonst sei erlaubt.

Politiker von CDU, SPD, Grünen und der FDP stützen sich gerne auf diese vermeintliche Expertise.

Die gleichen Professoren, meist als «Militärexperten» tituliert, die vorgeben, genau zu wissen, wann Deutschland Kriegspartei ist, bemerken jedoch nicht, dass sie sich gleichzeitig mit Äusserungen wie «Putin ist unberechenbar», «Russland hält sich nicht an das Völkerrecht», «die Wagner-Söldner treten das Völkerrecht mit Füssen» selbst widerlegen.

Spätestens an solchen Stellen müsste, wenn nicht den «Sicherheitsexperten», so doch dem Publikum, bewusst werden: Das Völkerrecht, das sind Rechtsnormen, die das Verhältnis der Staaten untereinander regeln. Jede Partei hat dennoch ihre Sicht der Dinge.

Ein Blick auf das sehr konkrete und detaillierte Zivilrecht sei erlaubt: An bundesdeutschen Amts- und Landgerichten für Zivilsachen werden täglich Hunderte von angeblichen und tatsächlichen Vertragsverletzungen verhandelt. Der Standardfall ist nicht, dass eine Seite den Vertrag bewusst verletzt, sondern dass eine Partei behauptet, dass die andere Seite sich nicht an den Vertrag hält.

Dies auf die gegenwärtige Situation auf dem Schlachtfeld übertragen: Auch etwas, was scheinbar völkerrechtlich kodifiziert ist, kann von einer Seite anders interpretiert werden. Für die sehr allgemein formulierten völkerrechtlichen Grundsätze gilt dies in besonderem Masse.

Dabei wird auch gerne, weil es ein geringes Mass an Selbstkritik verlangen würde, übersehen: In Teilbereichen halten auch Deutschland und andere EU-Staaten ihre eigenen völkerrechtlichen Verträge nicht ein. Das gilt beispielsweise für das Schengen-Abkommen und die Dublin-Verträge wie auch für die EU-Verträge zur Währungsunion.

Hinzu kommen bei einem kriegerischen Konflikt zwei weitere Punkte, die furchtbare Folgen haben können: Das eine ist die Fehlwahrnehmung. Im Krieg geht es um das eigene Überleben. Im Feuerkampf muss innerhalb von Sekunden reagiert werden. Jede Minute. Stunde für Stunde. Tag für Tag.

Im Vietnam-Krieg starben je nach Quelle 11 bis 14 Prozent der US-Soldaten durch Beschuss eigener Kameraden. Im dritten Golf-Krieg sollen es bei insgesamt geringen Verlusten der Alliierten 24 Prozent gewesen sein.

Genaue Opferzahlen durch friendly fire werden schwer festzustellen sein. Was bleibt, ist die klare Feststellung: Wenn selbst eigene Truppen Opfer von Fehleinschätzungen und von Eigenbeschuss werden, um wie viel grösser ist dann erst das Risiko von Irrtümern bei feindlichen Angriffen? Unheimliche Erinnerungen an den Absturz einer ukrainischen Rakete auf polnisches und damit auf Nato-Gebiet werden wach. Ein militärischer Vorfall, der wider besseres Wissen von der ukrainischen Regierung Russland zugeschrieben wurde und den als Nachricht viele westliche Medien zunächst ungeprüft weiterverbreitetet haben.

Der zweite Punkt sind die Folgen der Waffenlieferungen. Auf dem Schlachtfeld, beschönigend «Gefechtsfeld» genannt, ist völlig unerheblich, wessen Feuer die Verluste verursacht: Soll der russische Kommandeur, dessen Soldaten täglich durch Artillerieangriffe zerfetzt, zerrissen und verbrannt werden, differenzieren zwischen Verlusten durch Granaten aus alten sowjetischen Beständen, die von ukrainischen Soldaten verschossen wurden, und Toten durch Granaten deutscher Panzerhaubitzen vom Typ 2000?

Immer tiefer reiten Politiker Deutschland in diesen Krieg. Die Bundesregierung spielt mit dem Feuer.

Wolfgang J. Hummel ist Jurist beim Berliner Senat und Oberfähnrich der Reserve. Er kennt die Ukraine und Russland aus beruflichen Zusammenhängen.