Russland – die Friedensmacht. Dieses Narrativ verbreitet der Kreml seit Sowjetzeiten.

Und auch unter Wladimir Putin wird es breit gestreut. Viele im Westen nehmen es für bare Münze.

Doch was ist davon zu halten?

Tatsächlich war Moskau seit 1991 an bis zu 25 Militär-Interventionen beteiligt. Dabei kennen die meisten im Westen nur die wichtigsten – den Einmarsch in Georgien 2008, die Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg und die Eroberung der Krim und Unterstützung von sogenannten «Rebellen» in den ostukrainischen Provinzen Donbass und Luhansk.

Alle weniger bekannten Interventionen aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Viele sind im Westen in Vergessenheit geraten – wie zum Beispiel die beiden Tschetschenien-Kriege oder das Eingreifen in Transnistrien.

Oder sie waren immer schon kaum bekannt: wie etwa die Beteiligung im tadschikischen Bürgerkrieg oder die Unterstützung abchasischer Freischärler im Georgisch-Abchasischen Krieg.

Inzwischen agiert Moskau oft auch über Söldner des Unternehmens «Wagner», das nicht de jure, aber de facto unter der Kuratel der Regierung steht und enge Verbindungen mit dem Militär-Geheimdienst GRU hat.

Wagner-Söldner griffen 2018 im Kampf gegen die libysche Regierung auf Seiten Marschall Haftars ein. 2019 unterstützten sie den Kampf gegen die Ahlu Sunnah Wa-Jama in Mosambik mit. Russische Truppen stehen seit 2020 in der Region Bergkarabach in Aserbaidschan. Moskauer Militärs beteiligten sich auch an der Niederschlagung der Unruhen in Kasachstan 2022.

Konzentriert man sich auf die militärischen Interventionen seit Wladimir Putins Machtantritt am 31. Dezember 1999, so wird – wenig überraschend – deutlich, dass es ihm zum einen darum geht, Russlands Anspruch als Ordnungsmacht in den früheren Sowjetrepubliken durchzusetzen und separatistische Tendenzen im eigenen Land im Keim zu ersticken. Mit den militärischen Aktionen etwa in Afrika und Syrien will Putin seinen Anspruch auf den Weltmacht-Status untermauern.

Der frühere KGB-Offizier hat sich dem Kampf gegen das verschrieben, was er als die Vorherrschaft der USA in der internationalen Politik versteht. Er will wieder ein entscheidendes Wort in der Geopolitik mitsprechen.

Gleichzeitig sind die militärischen Konflikte für Russland auch eine Bewährungsprobe für die eigene Waffentechnik. Und – was leider so zynisch ist, wie es klingt – in den Augen des Kremls auch Reklame für die russische Rüstungsindustrie, deren Absatzmarkt Moskau verbreitern möchte.

Aus Putins Sichtweise heraus wurde Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion – den er als grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete – gedemütigt und, wie es die russischen Medien und Politiker in Dauerschleife wiederholen, «auf die Knie gezwungen».

Das «Aufstehen von den Knien» ist eines der Leitmotive für Putins Propaganda – und eine der Triebfedern für seine militärischen Aktionen. Dahinter steckt auch innenpolitisches Machtkalkül: Das Image des Machers und Kämpfers, der Russland wieder stark gemacht und auf die Weltbühne zurückgebracht hat, wird vom Kreml sorgsam gepflegt und ist einer der Grundpfeiler für die immer noch recht hohe Popularität des Kreml-Chefs.

Vom ständigen verbalen Schlagabtausch und kleinerem Gerangel über den Georgien-Krieg 2008 und die Eroberung der Krim 2014 bis hin zum Überfall auf die Ukraine hat Wladimir Putin immer wieder mit aussenpolitischen Konflikten und deren Lösung durch Gewalt innenpolitisch seine Macht konsolidiert und sein «Rating» in schweren Zeiten erhöht – so bezeichnet man mit einem Anglizismus im Russischen die Zustimmungswerte für einen Politiker.

Immer noch viel zu wenig Beachtung findet im Westen die hybride Kriegsführung des Kremls. Sie ist nicht neu.

Schon die mongolischen Eroberer schickten vor den Angriffen auf russische Städte Kundschafter aus, die die Bewohner überzeugen sollten, dass es sich unter mongolischer Herrschaft viel besser lebe.

Ganz ähnlich versuchen heute Putins «hybride Krieger» mit Hilfe von «nützlichen Idioten», wie Lenin einst seine Unterstützer im Westen nannte, drei Ziele zu erreichen: erstens die Destabilisierung von Gesellschaften potenzieller Feinde. Zweitens Sympathie-Werbung für den Kreml-Chef. Der im Westen etwa als Gegenpol zu der nicht immer nur vermeintlichen Dekadenz dort präsentiert wird. Drittes Ziel ist direkter Einfluss, etwa um bei Wahlen Moskau genehme Politiker an die Macht zu bringen.

Die Tradition dafür ist lang: Schon Katharina die Grosse echauffierte sich im 18. Jahrhundert, als es einmal nicht gelang, auf eine wichtige Wahlentscheidung in Schweden entscheidenden Einfluss zu nehmen.

Eines der Hauptziele für die hybride Kriegsführung ist Deutschland wegen seiner Schlüsselposition in Russland. Und weil Putin dort mit Millionen russischsprachiger Menschen ein zumindest in Teilen fruchtbares Feld für Meinungs-Manipulationen etwa durch die eigenen Medien hat.

Gerade gab es etwa in Berlin einen Autokorso mit mehr als 5000 Wagen zu Unterstützung des russischen Angriffskrieges. Weiterer Teil der hybriden Kriegsführung ist die Korrumpierung von Eliten. Diese wird in der russischen Fachsprache inzwischen durch ein aus dem Deutschen entnommenes Lehnwort definiert: «Schröderisierung». Das ist eine Anspielung auf das Engagement des deutschen Ex-Kanzlers Gerhard Schröder für Putin beziehungsweise staatliche russische Konzerne.

Dabei ist die hybride Kriegsführung immer auf das Zielland zugeschnitten: So wurden etwa in Georgien Fake News verbreitet, wonach Angela Merkel durch eingefrorenes Sperma von Adolf Hitler gezeugt würde.

In Deutschland wird nicht so grob agiert. Hier puschte Moskau etwa Fake News über die angebliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen durch Migranten und die angebliche anschliessende Vertuschung des Verbrechens durch die deutschen Behörden («Fall Lisa»).

Geheimdienstberichten zufolge pflegt Moskau zudem intensive Kontakte zu Kampfsport-Clubs, die von Russen – vielen davon aus dem System – weltweit betrieben werden. Dort werden Männer rekrutiert, die man zur «Fortbildung» nach Moskau schickt und sie dort in Nahkampf-Techniken sowie im Umgang mit Sprengsätzen und Feuerwaffen ausbildet und auch vorbereitet für die Ausführung von Sabotage-Akten.

Geheimdienste schätzen die Zahl solcher «Schläfer», die im Ernstfall auf Einsatzbefehle aus Moskau warten, in Deutschland auf 250 bis 300 Mann. Sie sind auch in der Schweiz aktiv. Es gab sogar Waffentrainings im Hochgebirge.

Eine ähnliche Geheimtruppe hatte bereits die DDR in der Bundesrepublik: Die westdeutschen Dienste haben sie nie erkannt – erst durch den Fall der DDR wurde ihre Existenz aus den Stasi-Unterlagen ersichtlich. Nicht nur an diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich das aktuelle Agieren Moskaus an den alten Mustern aus Sowjetzeiten orientiert. Teilweise hat man den Eindruck, es würden einfach alte Lehrbücher wieder studiert und umgesetzt.

Neu ist hingegen die «Cyber-Kriegsführung»: So wurde etwa der Deutsche Bundestag Opfer von russischen digitalen Angriffen. Formell werden diese durch Privatpersonen oder Hackergruppen ausgeführt. Sieht man genauer hin, ist deren Verbindung zu den russischen Behörden beziehungsweise Geheimdiensten zu erkennen. Der Westen reagierte zunächst mit Naivität und Arglosigkeit auf diese neue Form des Krieges – und bis heute wird sie noch kaum wahrgenommen.

Wodurch unterscheiden sich Putins Kriege von den russischen Kriegen vor ihm?

Faktisch führt er die alten Kriegs-Traditionen fort – wenn auch mit neueren, moderneren Mitteln. So setzt er etwa auf Söldner, unter anderem von «Wagner», und auf tschetschenische Kämpfer – beides Gruppen, die für besondere Brutalität bekannt sind.

Eine Konstante der russischen Kriegsführung ist denn auch die gezielte Grausamkeit gegen Zivilisten, wie man sie in Butscha sehen konnte, Auch am schlechten, oft brutalen Umgang mit den eigenen Soldaten und deren Einsatz als Kanonenfutter hat sich nichts geändert.

Neu ist an Putins Kriegen, dass es nicht mehr um Ideologie geht. Zwar stand auch zu Sowjetzeiten schon Machtpolitik im Vordergrund – allerdings immer im ideologischen Schafspelz. Neu ist auch, dass Putin Kriege gezielt nutzt, um die eigene Rüstungsindustrie zu fördern – von der Erprobung neuer Waffensysteme bis zur Werbung für diese.

Der KGB-Mann Putin setzt mehr auf Geheimdienstmethoden als die Sowjets – deutlich wurde das etwa beim Überfall auf die Krim, als seine Soldaten ohne Hoheitszeichen einmarschierten und er lange leugnete, dass es russische Truppen waren. Anders als die Sowjets nutzt er auch Gas- und Öllieferungen als «Wirtschaftswaffen». Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Nur hat kaum einer hingehört.

Krieg ist für Putin eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – und das unterscheidet ihn entscheidend von den Politikern im pazifistischen Deutschland, wo Kriege tabuisiert sind, ja ausserhalb der Vorstellungswelt von Teilen der Elite. Zugespitzt könnte man sagen, dass Putin im Denken der Sowjetunion hängengeblieben ist, das einerseits auf die zaristischen Traditionen, die sie offiziell ablehnte, basierte, andererseits aber durch totalitäre und durch einen marxistischen Schafspelz getarnte imperiale Züge geprägt war.

Mental scheint Putin in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg hängengeblieben.

Boris Reitschuster leitete von 1999 bis 2015 das Moskauer Büro des Focus und kennt Putin persönlich. In seinem Beststeller «Putins Demokratur» sagte er schon 2006 die aktuelle Entwicklung voraus. Das Buch wurde 2018 umfassend aktualisiert und ist wieder erhältlich.