Sie wird mit Morddrohungen eingedeckt, von Kollegen gemieden, von der Universität im Stich gelassen. Seit zehn Jahren ist Florence Bergeaud-Blackler beim renommierten Forschungsinstitut Centre national de la recherche scientifique (CNRS) angestellt, das die jüngsten Morddrohungen erst nach Wochen verurteilte. Medien werfen ihr vor, sie stelle in ihrem neuen Buch den Totalitarismus der Muslimbrüder jenem der Nazis und der Kommunisten gleich. Sie dementiert nicht: «Die Muslimbrüder sind religiöse Suprematisten, eine Geheimgesellschaft, die ihre Absichten verheimlicht.»

In «Le frérisme et ses réseaux, l’enquête» untersucht Bergeaud-Blackler Ideologie, Strategie und Doktrin der Muslimbruderschaft (MB) und ihrer Netzwerke in Europa. Die akribische Darstellung der Anthropologin ist überzeugend und ergibt ein erschreckendes Bild. Die Autorin legt Beweise für die Infiltration der Muslimbruderschaft in wichtige Institutionen der Europäischen Union und der französischen Wissenschaft vor, mit dem Ziel, ihre Ideologie zu verbreiten und eine islamische Welt zu schaffen. Gilles Kepel, der Doyen der französischen Islamologen, steuerte das Vorwort bei. Er lobt das Buch als Veranschaulichung seines Bestsellers «Le prophète et la pandémie. Du Moyen-Orient au jihadisme d’atmosphère».

Weltwoche: Frau Bergeaud-Blackler, Sie beschreiben die Bruderschaft als Bewegung für Muslime ausserhalb der islamischen Welt.

Florence Bergeaud-Blackler: Sie wurde vor hundert Jahren in Ägypten gegründet. Mehrere ihrer ersten Mitglieder mussten nach Europa und in die USA auswandern. Es gab heftige Diskussionen. Einige plädierten für die Rückkehr in die Heimat, um dort die Regierungen zu stürzen. Die anderen sprachen sich dafür aus, den Islam nach Europa zu holen.

Weltwoche: Der französische Geheimdienst geht von 50 000 Muslimbrüdern in Frankreich aus. Sie sprechen von ein paar tausend. Wie funktionieren die Muslimbrüder, deren Ideologie Sie als «frérisme» bezeichnen?

Bergeaud-Blackler: Der frérisme integriert die unterschiedlichsten Strömungen des Islam. Er ist eine den liberalen Demokratien angepasste Synthese, deren Einfluss in Frankreich Millionen von Menschen unterliegen. Mehr als ein Drittel der Muslime stellen die Scharia über die Gesetze der Republik. Bei den Jugendlichen sind es 57 Prozent. Eine Mehrheit akzeptiert das Kopftuchverbot nicht. Der frérisme macht aus muslimischen Franzosen französische Muslime. Sein Ziel ist es, die Welt in eine islamische Gesellschaft zu verwandeln – zu einem transnationalen Kalifat zu machen. Er ist sehr modern und bedient sich des technologischen Fortschritts. Doch die Gesellschaft, die ihm vorschwebt, ist keine Demokratie, sondern eine Theokratie – mit der Scharia als Gesetz. Es handelt sich um eine politische und religiöse Bewegung, die ihr Vorgehen dem Ziel anpasst.

«Der Feind wird dazu gebracht, seine Waffen und Werte gegen sich selbst einzusetzen.»

Weltwoche: Was ist die Strategie dahinter?

Bergeaud-Blackler: Sekten versuchen, neue Mitglieder zu isolieren und ihrem Umfeld zu entreissen. Die Muslimbrüder machen das Gegenteil. Sie bearbeiten Zielscheiben innerhalb ihres Milieus. Von ihm aus wird der Einfluss auf die Gesellschaft angestrebt. Für das Erreichen dieses Ziels gibt es einen Plan – es ist der Plan Gottes. Er beruht auf einer Vision der Geschichte und der Zukunft. Die Politologen vernachlässigen ihn, weil sie Angst haben, dass man ihre Analyse als Verschwörungstheorie verstehen könnte. Deshalb schreiben sie, die Muslimbrüder hätten ihren ideologischen Kompass verloren und würden auf die Errichtung einer islamischen Gesellschaft verzichten. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Der Plan existiert, er ist das grösste Geheimnis der Muslimbrüder, die eine Geheimgesellschaft sind.

Weltwoche: Das tönt sehr ein bisschen nach Verschwörungstheorie. Handelt sich tatsächlich um eine Geheimgesellschaft?

Bergeaud-Blackler: Aber sicher. Kein Muslimbruder wird je zugeben, dass er ihr angehört. Die Mitglieder erfüllen ihre Mission, ohne je öffentlich darüber zu reden. Nur von wenigen weiss man, dass sie es waren. Das heisst aber auch, dass sie während Jahren gelogen haben. Deshalb ist es schwierig, ihnen nun zu vertrauen. Bei Mohamed Louizi, einem Franzosen marokkanischer Herkunft, kann man davon ausgehen, dass er tatsächlich Mitglied war und mit der Bewegung gebrochen hat: Er beschreibt die Muslimbrüder sehr kritisch und detailreich. Bei anderen ehemaligen Mitgliedern hat man den Eindruck, dass sie noch immer unter ihrem Einfluss stehen. Es gibt zudem viele Gutgläubige, die gar nicht so richtig merken, dass sie von den Muslimbrüdern manipuliert werden.

Weltwoche: Pardon für die blöde Frage: Gibt es auch Muslimschwestern?

Bergeaud-Blackler: Natürlich. Allerdings habe ich nie eine Muslimschwester getroffen, die der Bruderschaft ihre Treue geschworen hat. Ich weiss selbst nicht genau, ob es für Frauen dieses Treuebekenntnis gibt. Aber ich kenne viele Muslimschwestern, die genauso aktiv sind wie die -brüder. Die Grenze zwischen der Bruderschaft und dem engsten Kreis ihrer Einflussnahme ist fliessend. Das Kriterium «Mitgliedschaft» sagt wenig aus.

Weltwoche: Wie verhält es sich mit Tariq Ramadan und seinem Bruder Hani, den in Genf lebenden Enkeln des Gründers Hassan al-Banna? Sind sie Mitglieder, Missionare, Propheten im Dienst seiner Ideologie?

Bergeaud-Blackler: Alle, die sich zur Lehre von al-Banna und al-Qaradawi bekennen, sind Teil der Muslimbruderschaft. Das gilt selbstverständlich für Hani und Tariq Ramadan. Ihr Einfluss auf die Jugendlichen ist beträchtlich. Er wird über kulturelle Vereinigungen, Vorträge, Sportvereine, Ferienlager und so weiter ausgeübt. Französische Kulturhäuser und Islam-Zentren sind Drehscheiben der Verbreitung. Die Muslimbrüder sind Integristen, und in Frankreich haben sie ihre politische Vision des Islam weitgehend durchgesetzt: Zwei bis drei Generationen von Einwanderern wurden re-islamisiert. Die Jugendlichen haben den Auftrag, ihre gemässigteren Eltern auf den rechten Weg zurück zur «richtigen» Religion zu bringen. Sie fühlen sich als Botschafter des Islam in Frankreich.

Weltwoche: Fühlen sie sich als Franzosen?

Bergeaud-Blackler: Selbst die fanatischsten unter ihnen fühlen sich sehr wohl als Franzosen: unter der Bedingung, dass sie ein Leben nach den halal Kriterien führen können. Die Gesellschaft muss ihnen ein Leben der «Inklusion» ermöglichen. Ohne Assimilierung. Sie sind Franzosen, die sich den französischen Traditionen und Normen verweigern.

Weltwoche: Sie haben dem halal Phänomen zwei Bücher gewidmet, die hohe Wellen schlugen. Für Sie ist halal eine «erfundene Tradition».

Bergeaud-Blackler: Es handelt sich in der Tat um ein Phänomen, das nicht vom Koran hergeleitet werden kann. Sein Siegeszug hat weltweit Ausmasse angenommen, die ohne eine Strategie nicht erreicht worden wären. Das halal Business ist aus einer Allianz zwischen der neoliberalen, kapitalistischen Marktwirtschaft – mit Firmen wie Nike und Adidas – und den islamischen Fundamentalisten entstanden. Letztere sind keine Kapitalisten, aber sie benutzen den Markt zur Verbreitung ihrer Weltanschauung. Sie verdienen Geld und stärken ihre Macht. Die religiösen Instanzen verleihen den halal Produkten das Echtheitszertifikat. Es geht längst nicht nur um das Fleisch und andere Nahrungsmittel. Auch Reisen, Hotels sind betroffen. Alles, was konsumiert werden kann, unterliegt inzwischen den halal Kriterien. Es geht längst um eine gewaltige Industrie, die dabei ist, die islamischen Normen durchzusetzen.

Weltwoche: Zu Beginn des Ramadan startete die Marke Evian zufälligerweise eine Kampagne, in der die Tugenden des Mineralwassers beworben wurden. Sie wurde als Provokation der Muslime hochgespielt. Evian musste sie umgehend stoppen und sich entschuldigen – aus Angst vor einem weltweiten Boykott.

Bergeaud-Blackler: Der Protest kam von Vereinigungen gegen die «Islamophobie». Ihre Strategie setzt auf die Schuldgefühle des Westens, die skrupellos instrumentalisiert werden. Damit will man uns auf die Islamisierung der Welt einstimmen. Wer sich ihr entgegenstellt, wird als islamfeindlicher, kolonialistischer Rassist stigmatisiert. Mit dem Schlagwort «systemische Islamophobie» soll die westliche Gesellschaft zur Einsicht gebracht werden, dass sie sich dem Islam anpassen muss. Und nicht umgekehrt. Sie – als Gastgeberin – muss eine Willkommenskultur schaffen. Es ist an den Europäern, andere Denk- und Verhaltensweisen zu akzeptieren. Auch wenn diese mit unseren Werten, Traditionen, Sitten und Bräuchen nicht vereinbar sind. In dieser Logik ist es zum Beispiel islamophob, in den Schulen das Kopftuch zu verbieten.

«Ihre Strategie setzt auf die Schuldgefühle des Westens, die skrupellos instrumentalisiert werden.»

Weltwoche: Dieser Diskurs und die «Islamophobie» gehen auf die Muslimbrüder zurück?

Bergeaud-Blackler: In ihrer Strategie und Ideologie steckt das Bewusstsein einer suprématie, einer religiösen Überlegenheit des Islam. Muslimbrüder sind Suprematisten. Die Verbreitung des Schleiers illustriert ihren Einfluss. Ich hatte mich am Anfang meiner Feldstudien als Anthropologin mit jungen islamischen Frauen befasst und ihre Manipulation durch die Muslimbrüder beobachtet. Sie brachten Schülerinnen dazu, das Kopftuch zu tragen und es als Ausdruck ihrer Freiheit zu verteidigen. Nach einem Jahr der Provokationen reagierte Frankreich mit einem Gesetz, das den Terroristen einen Vorwand für ihre Attentate lieferte. Der klassische Feminismus, der das Kopftuch abgelehnt hatte, mutierte zum Neofeminismus, der es akzeptiert und dem die Frauen in Afghanistan gleichgültig sind. Weil ich mich nicht vereinnahmen und schon gar nicht bekehren liess, verweigerte man mir den Zugang zu den Frauen in den Banlieues. Deshalb begann ich, das halal Business zu untersuchen. Da hatte ich sehr viel weniger Schwierigkeiten. Auch weil ich gebraucht wurde, um seine Existenz zu bezeugen. Das war mir sehr wohl bewusst.

Weltwoche: Kann man seine wirtschaftliche Bedeutung in Zahlen ausdrücken?

Bergeaud-Blackler: Das ist sehr schwierig. Die Moscheen werden für die Zertifizierung des Fleisches als halal bezahlt, doch die Höhe der Abgabe bleibt geheim. Doch hier geht es gar nicht sosehr um die Zahlen: Die Ausweitung des halal Kriteriums auf zahlreiche Produkte und Dienstleistungen führt zu einem Separatismus in der Gesellschaft. Weil es halal Hotels und Restaurants gibt, bleiben sie den anderen fern. Der Graben zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vertieft sich zusehends.

Weltwoche: Wollen die Muslimbrüder eine Apartheid-Gesellschaft?

Bergeaud-Blackler: Sie fördern sie – auf dem Weg zu der Gesellschaft, wie sie ihnen vorschwebt. Auch dafür ist ihr suprematistisches Bewusstsein einer religiösen Überlegenheit verantwortlich. Die Muslime schliessen sich selbst aus, weil sie sich für besser halten. Das halal Business ist darauf angelegt, unsere Gesellschaft «halal-kompatibel» zu machen. Mawdudi, Theoretiker des frérisme, sprach von einem halal way of life. Diese Strategie ist sehr viel schlauer und ergiebiger als die brutale Islamisierung, die auf Widerstand stösst. Langsam, schleichend werden wir zu den Normen des Islam hingeführt. Man tut so, als ginge es darum, die Diskriminierung einer Minderheit, die mit dem Islamismus nichts zu tun habe, zu überwinden. Natürlich handelt es sich um eine Form von Betrug. Es ist eine List, um uns an die islamische Gesellschaft zu gewöhnen. Bis wir uns wie von selbst zur islamischen Theokratie bekennen, und sei es in ein paar Jahrhunderten.

Weltwoche: Wie erklären Sie die Tatsache, dass globalisierte Firmen sich in diesen Kampf einspannen lassen? In Ihrem Buch verwenden Sie den Begriff «nützliche Idioten».

Bergeaud-Blackler: Es geht ums Geschäft . Ihr Verhalten entspricht dem multikulturellen Geist, der die Unternehmen in Beschlag genommen hat. Gegen den Rassismus, für das friedliche Zusammenleben aller. Sie verstehen nicht, dass sie tatsächlich zu nützlichen Idioten des Islam und seiner Globalisierung werden. Es gibt eine Internationale des Islam, die mit dem diskreten Islam, den es in Frankreich vor vierzig Jahren gab, nichts mehr zu tun hat. Die Gläubigen gingen ihrem Glauben nach. Sie wollten arbeiten. Jegliches Missionieren war ihnen fremd. In den Moscheen wurde gebetet – heute sind sie mächtige Geschäfts- und Kulturzentren. Sie kümmern sich um Bildung und Freizeit der Muslime. Sie führen Kampagnen gegen Schriftsteller, die sie der Blasphemie bezichtigen, und spielen bei Wahlen eine Rolle. Diese Ausbreitung geht auf die Muslimbrüder zurück.

Weltwoche: Sie sprachen von List.

Bergeaud-Blackler: Die List ist eine Form der Kriegsführung gegen einen Feind, den man mit militärischen Mitteln nicht besiegen kann. Er wird dazu gebracht, seine Waffen und Werte gegen sich selbst einzusetzen. Die Muslimbrüder setzen auf unser Schwächen und Irrtümer. Ihre Kriegsführung vermeidet die direkte Konfrontation, denn sie würde unweigerlich ihre eigene Einheit zerstören, die ihre grösste Stärke ist.

Weltwoche: Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, den Rechtsextremen in die Hände zu arbeiten.

Bergeaud-Blackler: Das höre ich seit dreissig Jahren. Der Vorwurf kommt von den Muslimbrüdern und den Linken. Gegen diese grotesken Unterstellungen bin ich längst immun. Ich fühle mich der Wahrheit verpflichtet. Ich bin Forscherin, ich mache keine Politik.

Weltwoche: Die Verleumdungen haben eine neue Stufe erreicht: Wegen Morddrohungen stehen Sie seit Wochen unter Polizeischutz.

Bergeaud-Blackler: Ich habe das Glück, in einem Land zu leben, das seine Forscher beschützt. Wo immer ich hingehe, habe ich einen Polizisten an meiner Seite.

Weltwoche: Was hörten Sie in Deutschland bezüglich der Bedrohung durch den Islam?

Bergeaud-Blackler: Wir sind überall, in Deutschland, in den Niederlanden und in Grossbritannien, nur noch ein paar wenige Forscher, die sich damit befassen. Das hat nicht nur mit Drohungen zu tun, sondern generell mit der Politisierung des Themas. Forschung und Lehre sind in Gefahr. Wir schätzen die Lage ähnlich ein und hoffen auf einen heilsamen Schock. Noch ist es nicht so weit. Die Universitäten lassen sich einschüchtern, sie stellen sich nicht vor bedrohte Wissenschaftler, die desavouiert werden.

Weltwoche: Sie sind mit diesem Anliegen an den französischen Innenminister Gérald Darmanin gelangt, der Sie empfangen hat.

Bergeaud-Blackler: Darmanin ist sich der Gefahr bewusst. Das Treffen fand statt, nachdem die Sorbonne eine Veranstaltung mit mir abgesagt hatte. Die ebenfalls anwesende Staatssekretärin für die Forschung, Sylvie Retailleau, hat mich weniger überzeugt. «Sehen Sie, Vorträge werden heute doch ständig verschoben», sagte sie zu mir. Genau das muss verhindert werden. Absagen von Vorlesungen geben jenen Recht, die mich zum Schweigen bringen wollen.

Weltwoche: Ist die freie, wissenschaftliche Islam-Forschung an den Universitäten in Gefahr?

Bergeaud-Blackler: Sie ist jetzt schon ungenügend. Wir brauchen mehr Schutz und Unterstützung. Das Forschungsinstitut CNRS, bei dem ich seit zehn Jahren angestellt bin, hat mich nicht gegen die Angriffe verteidigt. Ich bekam keine Unterstützung von den Kollegen. Erst nach Wochen veröffentlichte das CNRS ein Communiqué, in dem die Morddrohungen verurteilt wurden. Nur die Rechtsabteilung hat sich für mich eingesetzt, sie bezahlt meine Anwälte. Schon früher gab es Probleme mit der Finanzierung. Bei den halal Recherchen arbeitete ich mit den Veterinären zusammen. Deswegen musste ich mich mit der Fleischproduktion befassen, die nicht besonders interessant ist. Aber ich konnte die Studien auf die halal Norm ausweiten, um die es mir geht. Das vereinfacht die Arbeit nicht. Aber es ist auch eine Bereicherung. Bei den Tierärzten habe ich sehr viel über das halal Business gelernt.

«Wir sind nur noch wenige, die sich mit dem Thema befassen. Wir hoffen auf einen heilsamen Schock.»

Weltwoche: Sie forschen unter anderem mit Geld der EU.

Bergeaud-Blackler: In den Ausschreibungen geht es um die Förderung der europäischen Integration, das Zusammenleben, den Kampf gegen Hass und Rassismus. Wenn man über die Radikalisierung forschen will, ist man gut beraten, das Thema nicht auf den Islam zu beschränken. Es gab zum Beispiel ein Projekt, bei dem man die Radikalisierung der jungen Muslime mit jener der neofaschistischen Rechtsextremen vergleichen musste.

Weltwoche: Die Medien werfen Ihnen vor, den Totalitarismus der Muslimbruderschaft mit dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus zu vergleichen.

Bergeaud-Blackler: Es gibt Medien, die sich bewusst als Sympathisanten des Islam gebärden. Viele sind schlicht blind. Auch wichtige Qualitätszeitungen – wie die linke Zeitung Libération und die katholische La Croix – haben den Ernst der Lage nicht begriffen und lassen sich als nützliche Idioten missbrauchen: Sie verteidigen die «Unterdrückten» und machen in den Muslimen Opfer aus.

Weltwoche: Den besten Artikel über Sie veröffentlichte Charlie Hebdo, die linke Satirezeitschrift, die Opfer eines Attentats war.

Bergeaud-Blackler: Das stimmt. Auch Marianne war nicht schlecht. Positiv wurde mein Buch von konservativen Zeitung wie dem Figaro aufgenommen.

Weltwoche: Diese Blindheit betraf auch die Politik. Hat sich seither etwas geändert?

Bergeaud-Blackler: Der Zustand, in dem sich Frankreich heute befindet, ist die Folge auch ihrer Blindheit seit einem halben Jahrhundert. Als Innenminister und Präsident glaubte Nicolas Sarkozy, dass aus den Muslimbrüdern Demokraten werden könnten: Er holte sie in den Conseil français du culte musulman (CFCM), den Dachverband der muslimischen Organisationen. Noch heute begehen zahlreiche Stadt- und Gemeindepräsidenten den gleichen Irrtum und setzen auf die Zusammenarbeit. Muslimbrüder sind Theokraten. Ihnen gegenüber ist eine einzige Antwort angebracht: Die Republik darf ihnen keinen Zentimeter des französischen Laizismus überlassen.

Weltwoche: Vor zwei Jahren wurde ein Gesetz gegen Separatismus in der Republik erlassen.

Bergeaud-Blackler: Es gibt der Polizei ein bisschen mehr Handlungsraum bei der Überwachung des politischen Islam. Dank ihm konnten nach der Ermordung von Samuel Paty auch Anstifter und Hetzer bestraft werden. Doch dieses Gesetz stösst schnell an Grenzen: Vereinigungen, deren Auflösung es ermöglicht hat, sind versucht, sich neu zu gründen. Man kann das beim verbotenen Collectif contre l’islamophobie en France (CCIF) beobachten. Es hat sich eine neue Form gegeben und agiert nun hauptsächlich in Brüssel. Meine Kollegen im Ausland haben sich sehr positiv zu unserem Separatismus-Gesetz geäussert und wünschen sich ein ähnliches Instrument. In Amerika wird Frankreich für seinen Kampf gegen den Islam kritisiert, in Europa belächelt – aber immer mehr auch gelobt. Es ist seine Aufgabe, ihn zu führen – auch weil der Hass der Muslime in aller Welt auf Frankreich wegen seines Laizismus besonders gross ist.

Weltwoche: Ist das krisengeschüttelte Frankreich mit dieser Aufgabe nicht überfordert?

Bergeaud-Blackler: Die Aktionen des Staats reichen nicht, allein ist er tatsächlich überfordert. Die Gesellschaft muss erwachen und sich gegen die permanente Einschüchterung wehren. Mancherorts sind ultrarechte Milizen im Entstehen, die nur darauf warten, in den bewaffneten Kampf zu ziehen. Diese Eskalation muss gestoppt werden.

Weltwoche: Die Krawalle Ende Juni erweckten den Eindruck eines Bürgerkriegs.

Bergeaud-Blackler: Diese Jugendlichen wurden im Glauben erzogen, dass ihre Religion die beste sei. Aber sie sind ihrer nicht würdig. Denn sie sind kriminell, nehmen Drogen, laufen den Mädchen nach. Sie werden dem moralischen Druck des frérisme, der sie zu «Über-Muslimen» verklärt, nicht gerecht. Ihr Überlegenheitskomplex zerschellt an der Wirklichkeit. Er führt zu Verbitterung und entlädt sich in blindwütiger Gewalt.

 

Das Interview mit Florence Bergeaud-Blackler wurde telefonisch geführt.

Florence Bergeaud-Blackler: « Le frérisme et ses réseaux, l’enquête». Editions Odile Jacob. 416 S., 24.90 Euro.