Wo ich bin, ist die deutsche Kultur», soll Thomas Mann gesagt haben, als er am 21. Februar 1938 in New York von Bord des Atlantikschiffs «Queen Mary» ging. So überliefert es sein Bruder Heinrich. An anderer Stelle schrieb Thomas Mann selbst: «Wo ich bin, ist Deutschland.» Bescheidenheit klingt anders. Wie kann ein Schriftsteller – auch wenn er Nobelpreisträger und zweifellos einer der grössten Romanciers des 20. Jahrhunderts ist – von sich behaupten, Deutschland, die deutsche Kultur zu verkörpern?

Die Antwort führt mitten in die tragischen Verwerfungen der deutschen Geschichte. «Wo ich bin, ist Deutschland»: Das ist weniger Ausdruck eines übersteigerten literarischen Egos als vielmehr eine notwendige Reaktion auf das Exil. Die Nazis haben Mann und seine hochbegabte Celebrity-Familie mit Ehefrau Katia und den Kindern Erika, Klaus, Golo und Co. vertrieben, zuerst in die Schweiz, dann nach Amerika. Mit seinem Statement parierte er den Anspruch der Machthaber, Gralshüter allen Deutschtums zu sein. Wenn es eine vom Nationalsozialismus unabhängige deutsche Kultur geben sollte, musste sie im Ausland überleben. In Ferne und Fremde erfuhr Mann die «Flüchtigkeit äusserer Sesshaftigkeit». Heimat bewahrte er sich in seinen literarischen Arbeiten, in der deutschen Sprache, in den Überlieferungen der deutschen Kultur. Schon Heinrich Heine, ein deutscher Exilant des 19. Jahrhunderts, hatte vom «portativen Vaterland» gesprochen – vom Vaterland, das man mit sich trägt und das einem niemand nehmen kann.

 

Gegen den Brutalo-Nationalismus

Was ist Deutschland? Wer sind die Deutschen? Worin besteht die deutsche Kultur? Das sind Fragen, die kaum einer so intensiv gestellt und so vielschichtig und differenziert beantwortet hat wie Thomas Mann. Es sind Fragen, die heute noch umtreiben, die aber gerne mit einem Moralin-Überschuss, mit einem schneidenden Entweder-oder und nicht gerade im Modus der Entspanntheit erörtert werden. Einfache Antworten darauf gibt es nicht, auch nicht bei Thomas Mann. Dennoch – oder gerade deswegen – können wir einiges von ihm lernen, wenn wir uns auf seine Gedanken, seine Idee einer deutschen Kultur einlassen. Dann stossen wir auf ein faszinierendes Identifikationsangebot jenseits aktueller und historischer Schützengräben.

Es beginnt schon mit dem Stil: das Schwere leicht, das Leichte schwer. Obwohl er sich bis zur Selbstentblössung mit den Abgründen des Deutschtums befasst hat – einen seiner Aufsätze nannte er «Bruder Hitler» –, strahlt Manns Werk eine ironische Weltläufigkeit und Eleganz aus. Ein höheres Niveau hat die deutsche Prosa selten erreicht. Schon darin ist der homoerotisch veranlagte sechsfache Familienvater ein wandelnder Gegenentwurf zum deutschen Brutalo-Nationalismus und seinen gestanzten Parolen.

«Ha!», höre ich den Einwand der Belesenen, «jetzt unterschlagen Sie aber Manns Hurra-Patriotismus im Ersten Weltkrieg!» Ja, den gab es – und auch wieder nicht. Der Kriegsausbruch löste in Mann, wie bei so vielen anderen Schriftstellern und Intellektuellen dies- und jenseits der Front, einen nationalistischen Begeisterungsrausch aus. Er riss ihn, wie er es formulierte, aus der «machtgeschützten Innerlichkeit» des wilhelminischen Kaiserreichs, in dem er sich nicht um die Niederungen der Politik kümmern und sich ganz seiner Künstlerexistenz widmen konnte. Diesen Schock einer gewaltsamen Politisierung, die ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf, verarbeitete er in dem fast 600 Seiten dicken Kolossal-Essay «Betrachtungen eines Unpolitischen». Darin entwarf er das Bild einer deutschen «Kultur», das in scharfem Kontrast zur westlichen «Zivilisation» stand und sich durch ihr unpolitisches Wesen, ihre Tiefe, Seelenhaftigkeit, Musikalität und Moral auszeichnete, während das «zivilisierte» Frankreich, der Lieblingserbfeind auf der anderen Rheinseite, als oberflächlich, verzärtelt und demokratisch-dekadent galt.

Die «Betrachtungen eines Unpolitischen» waren über weite Strecken eine Abrechnung mit seinem älteren, frankophil und republikanisch eingestellten Bruder Heinrich, den er als «Zivilisationsliterat» verspottete. Dabei wusste er selbst nur zu gut, wie prekär seine Position als angeblich unpolitischer Schreibtischheld war, der die deutsche Machtpolitik und Kriegsmaschinerie schönschrieb. Indem er exzessiv festhielt, was ihn bewegte, machte er den ersten Schritt zur Überwindung seiner martialischen Anwandlungen – Schreiben als Therapie.

Der geläuterte Thomas Mann wurde zu einem frühen Warner vor dem heraufziehenden Nationalsozialismus und zu einem vehementen Verteidiger der Weimarer Republik, ohne dass er sein ästhetisches Unbehagen an der Politik und ihrer propagandistisch vereinfachten Sprache je verloren hätte. Er versuchte, dem «unseligen Staatswesen», das «keine Bürger» hatte, «etwas wie Idee, Seele, Lebensgeist» einzuflössen.

Im Roman «Der Zauberberg», der 1924 erschien und als Zeitbild der europäischen Epochenschwelle 1914–1918 gelesen werden kann, setzte er seine Erkundungen der deutschen Seele fort. Der Held Hans Castorp fährt mit einem lungenkranken Freund nach Davos – und wird dort selbst zum Kurgast und Patienten. In der ​​​​​​​Tradition ​​​​​​​des ​​​​​​​deutschen ​​​​​​​Erziehungsromans ​​​​​​​setzt ​​​​​​​Mann ​​​​​​​seinen ​​​​​​​Protagonisten ​​​​​​​sinnlichen ​​​​​​​und ​​​​​​​übersinnlichen ​​​​​​​Abenteuern aus ​​​​​​​– und er stellt ihn zwischen die intellektuellen Streithähne Lodovico Settembrini, einen italienischen Wiedergänger des Zivilisationsliteraten, und den Osteuropäer Leo Naphta, den Propheten einer «Revolution ​​​​​​​des antihumanen Rückschlags», der die ​​​​«bürgerliche Humanitätsepoche» hinwegfegen will. Das erinnert an den Terror der russischen Revolution – und nimmt feinfühlig den Schrecken der Hitler-Herrschaft vorweg.

 

Mystische Gemeinschaft des Ostens

Interessant ist nun, wie Mann das «unbeschriebene Blatt» Castorp, das «Sorgenkind des Lebens», als Verkörperung der «deutschen Mitte» zeichnet. Castorp lässt sich zwar von beiden intellektuellen Vaterfiguren beeinflussen, neigt mal hier-, mal dorthin, um schliesslich eine Alternative zu den Alternativen zu wählen, einen Mittelweg zwischen der «mystischen Gemeinschaft» des Ostens und dem «windigen Einzeltum» des Westens. Darin ist unschwer ein politisches und – wenn man so will – geopolitisches Statement zu sehen, das wir heute wieder mit erhöhter Aufmerksamkeit lesen. Aber es ist zugleich mehr: nämlich eine Abkehr von der radikalromantischen Todessehnsucht, die der deutschen Kultur eben auch innewohnt. Im berühmten Schneetraum, bei dem Castorp in den weissen Massen der Davoser Berge beinahe untergeht, fasst er den Entschluss zum Leben und zur Liebe: «Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, dass Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren.» Dann folgt, kursiv, der Merksatz: «Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.»

Er versuchte, dem «unseligen Staatswesen» etwas wie «Idee, Seele, Lebensgeist» einzuflössen.

Das ist die Quintessenz von Castorps Bildungsprozess im «Zauberberg», und es ist – einmal mehr – so etwas wie die Selbsttranszendenz deutscher Kultur.

 

Flirt mit der «Barbarei»

Thomas Mann hat nicht nur durch seine essayistischen und belletristischen Werke – von den «Buddenbrooks» über den «Zauberberg» bis zum vierbändigen Josephsroman und zum «Doktor Faustus» – deutsche Kulturgeschichte geschrieben, er ist auch ein herausragender literarischer Chronist seines Zeitalters, der Epoche eines neuen Dreissigjährigen Krieges, die mit der Urkatastrophe von 1914 begann und in den Vernichtungsstrudel des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust mündete. Zu Ende ging damals, wie Mann 1947 in dem in Zürich gehaltenen Vortrag «Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung» sagte, eine «Friedens- und Sekuritätsepoche mit ‹mündelsicheren Anlagen›». Ob wir uns heute, da in Europa wieder Krieg herrscht, an einem ähnlichen Wendepunkt befinden?

 

Goethe und Hitler

Doch zurück zu Mann. In der Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche, dem selbsterklärten «Dynamit» unter den Denkern, gewinnt seine Analyse der Weltkriegsjahre, jenes «Zeitalters der Extreme» (Eric Hobsbawm), ihr Profil. Der Philosoph war ein überwacher Seismograf, der die Krisensymptome aufzeichnete und damit die Katastrophe ankündigte. Als Kind einer Ära, «welche sich an sich selbst zu langweilen» begann, verschrieb Nietzsche der ermatteten europäischen Kultur das Gegenmittel «der grössten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei». 1947, nach der Erfahrung des Nationalsozialismus, verurteilte Mann diese Idee einer kulturerneuernden Funktion des Krieges als Fantasie eines «Unerfahrenen» – Nietzsche hatte von Dingen geredet, von denen er nicht wusste, was sie praktisch bedeuteten. Nach den Weltkriegen brauchte das Gemetzel nicht mehr «philosophisch angespornt» zu werden.

Das Kennzeichen der Epoche wäre demnach ein Rückfall in die Barbarei, mehr noch: ein bewusst herbeigeführter Rückfall in die Barbarei. Tatsächlich ist dies ein Grundzug der Zeit, wie ihn Mann in den erwähnten Romanen, aber auch in den Tagebüchern und der politischen Publizistik jener Jahre herausarbeitet. Von einem «unheimlichen Prozess der Rebarbarisierung» spricht er in einer Rede von 1931 – eine Diagnose, die nach 1933 akut wird, aber schon vorher als Problem aufscheint.

Dabei – auch dies können wir von Thomas Mann abschauen – ist das alles ohne jede Spur von Dünkel, Moralismus oder Besserwisserei. Ganz im Gegenteil: Manns Kritik an Deutschland und der deutschen Kultur ist immer auch Selbstkritik. Er selbst, der gelehrige Schüler Nietzsches, hatte schon vor und während des Ersten Weltkriegs mit einer barbarischen Kulturauffrischung geliebäugelt und als Gegensatz der «Kultur» eben nicht die «Barbarei», sondern die «Zivilisation» propagiert. Angesichts der real-existierenden NS-Barbarei verbot sich dieser intellektuelle Flirt mit dem Bösen, Grausamen, Wilden.

Für den Absturz in den Nationalsozialismus machte Mann auch die unpolitische deutsche Kulturtradition, den «Ästhetizismus», verantwortlich, aus der er selbst hervorging. Gerade weil die Deutschen, vorab viele ihrer Intellektuellen, von der Politik nichts wissen wollten, auch weil sich nach der gescheiterten liberalen Revolution von 1848/49 keine demokratische Tradition entwickelt hatte, konnten die Nationalsozialisten eine totalitäre Politik errichten, so Manns These. Das blendet zwar handfestere politische und ökonomische Ursachen für Hitlers Aufstieg aus, schmälert aber nichts an der eminent selbstkritischen Interpretation dieses Strangs der deutschen Ideen- und Kulturgeschichte durch Thomas Mann. 1939 hielt er fest: «Das politische Vakuum des Geistes in Deutschland, die hoffärtige Stellung des Kultur-Bürgers zur Demokratie, seine Geringschätzung der Freiheit, in der er nichts als eine Phrase westlicher Zivilisationsrhetorik sah, hat ihn zum Staats- und Machtsklaven, zur blossen Funktion der totalen Politik gemacht.»

Manns Leitmetapher in politischen Fragen war der dialektische Ausgleich.

Eine so tiefgreifende deutsche Kulturkritik als Selbstkritik – am Schmerzpunkt deutscher Geschichte: Wo liest man das heute noch? Erinnerungen an Martin Walser werden wach, der 1998 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche die «Ritualisierung» der deutschen Vergangenheitsbewältigung kritisiert hatte (Auschwitz als «Einschüchterungsmittel», «Moralkeule», «Lippengebet»). Ganz anders Mann, wie sich gewissermassen am Pièce de Résistance deutscher Selbstvergewisserung zeigt, nämlich an der Frage, wie es möglich war, dass die deutsche Kultur in den SS-Schlachthöfen endete. Eine einfache und naheliegende Sichtweise, die tatsächlich viele Anhänger fand, würde lauten: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Es gibt ein gutes Deutschland – und es gibt ein böses Deutschland: das Deutschland von Schiller und Goethe – und das Deutschland von Himmler und Hitler.

Dieser Zwei-Deutschland-Theorie widerspricht Mann: «Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ‹Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weissen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.›» Nichts von dem, was er über Deutschland sage und schreibe, komme aus «fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe es alles am eigenen Leib erfahren».

Goethe und/oder Hitler? Die Antwort Thomas Manns mag die lauten Moraltrompeter verstören: Natürlich gehört das zusammen. Der Schriftsteller Jorge Semprún, Autor des autobiografischen Konzentrationslagerromans «Die grosse Reise», nannte das «Binom Weimar-Buchenwald». Der Gipfelpunkt deutscher Kultur, die Weimarer Klassik, und Buchenwald, das benachbarte KZ, lassen sich nur noch zusammen denken, als zwei Glieder einer Gleichung. Im «Doktor Faustus», schon zwei Jahre nach Kriegsende, beschreibt der Erzähler Serenus Zeitblom die historisch verbürgte Szene, wo «ein transatlantischer General die Bevölkerung von Weimar vor den Krematorien des dortigen Konzentrationslagers vorbeidefilieren» lässt. Das sei auch «unsere Schmach», sinniert Zeitblom – was der Haltung des Autors, der Haltung von Thomas Mann entsprach.

 

«Leiden an Deutschland»

Von Heinrich Heine stammen die bekannten Gedichtzeilen aus Paris: «Denk ich an Deutschland in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaf gebracht.» Thomas Mann seinerseits beschrieb im Exil die «nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit» und sein «Leiden an Deutschland». Die besten Köpfe dieses Landes, das sich als Kulturnation verstand, lange bevor es zum Nationalstaat wurde, haben es sich nie einfach gemacht. Manns Leitmetapher in politischen Fragen war der dialektische Ausgleich: Wenn es ihm zu platt, zu homogen, zu stechschrittartig wurde, trat er jeweils «auf die andere Seite des einseitig überlasteten Kahnes». Als künstlerischer Mensch war er neugieriger, wandelbarer, einfühlsamer, als «unbewegliche Meinungswächter» es sich träumen lassen können. Auch davon könnten wir uns heute – in Zeiten von Cancel-Culture, stammesmässiger Blasenbildung und eines immer enger werdenden Meinungskorridors – ein Stück abschneiden.

Philipp Gut ist Autor der preisgekrönten Studie «Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur», erschienen bei Fischer, dem Hausverlag Thomas Manns.

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