Einer um den anderen Minister kehrte Boris Johnson gestern den Rücken. Am Abend waren es 44. Die Medien erwarteten stündlich Johnsons Rücktritt. Doch als die Nacht über London einbrach, verschanzte sich Johnson im Regierungssitz und machte keine Anstalten, abzutreten.

Begonnen hatte die jüngste Krise, die Johnson nun den Job kosten könnte, im altehrwürdige Carlton Club im Londoner Stadtteil St. James’s. Dorthin – der Club ist nur zehn Minuten Fussweg vom Parlament entfernt - ziehen Tory-Politiker sich gern zurück, um zu relaxen oder weitere Karriereschritte in Angriff zu nehmen.

Doch vor kurzem war der Carlton Club Schauplatz eines Sexskandals, der Premierminister Boris Johnson das Amt kosten könnte.

Christopher Pincher, ein nachgeordnetes Regierungsmitglied mit dem Titel Deputy Whip, ironischerweise ein Amt, dessen Inhaber das Verhalten von Parteiangehörigen kontrolliert, begann im Zustand der Trunkenheit zwei andere Clubmitglieder zu begrapschen. Pincher (zu Deutsch: Kneifer) konnte sich kaum auf den Beinen halten und wurde weggeführt.

Tags darauf räumte er ein, sturzbetrunken gewesen zu sein. «Ich habe mich in eine peinliche Lage gebracht», gestand er und trat folgerichtig zurück.

Ende der Geschichte, könnte man annehmen. Doch nein, diese schmutzige kleine Sexposse ging weiter. Es stellte sich heraus, dass Pincher in einer Zeit, als Boris Johnson Aussenminister war, als Staatssekretär sexuell übergriffig geworden war. Die Sache wurde unter den Teppich gekehrt.

Als Boris unlängst vorgeworfen wurde, mit der Beförderung eines Mannes, der bekannt sei wegen sexuellen Fehlverhaltens, mangelnde Urteilskraft bewiesen zu haben, behauptete der Premierminister, keine Kenntnis von Pinchers Tun gehabt zu haben. Das war eine Lüge.

Dienstagvormittag widersprach Sir Simon McDonald, ein ehemaliger hochrangiger Beamter im Aussenministerium, öffentlich dem Premierminister und erklärte erstaunten Journalisten, dass Johnson sehr wohl über Pinchers Fehlverhalten informiert worden sei. Johnson soll sogar gewitzelt haben: «Er heisst Pincher, und er ist ein Pincher (Grapscher).»

Wieder einmal hat der Premierminister also die Unwahrheit gesagt. Nachdem er bereits die Teilnahme an Covid-Partys geleugnet hat (wofür er inzwischen zur Zahlung eines Bussgelds verurteilt wurde), steht Boris Johnsons moralische Autorität abermals in Frage.

Für viele konservative Politiker ist nun das Ende der Fahnenstange erreicht. Dienstagabend traten Finanzminister Rishi Sunak, Gesundheitsminister Sajid Javid, der Vize-Vorsitzende der Konservativen Partei und einige andere Minister zurück. Am Mittwochabend stieg die Zahl auf 44 Kabinettsmitglieder.

Die Tory-Partei versinkt in Chaos und Bürgerkrieg. Da Boris Johnson zuletzt bei Kommunal- und Nachwahlen demütigende Niederlagen erlitten und ein Misstrauensvotum der eigenen Partei nur knapp überstanden hat, scheint seine politische Zukunft besiegelt zu sein. Etwa 69 Prozent der Briten wollen, dass er zurücktritt.

Inzwischen sucht man innerhalb der Partei nach Wegen, eine weitere Abstimmung über die Führungsqualitäten des Premierministers herbeizuführen, die er kaum überleben dürfte.

Sollte er nicht wundersam den Kopf aus der Schlinge ziehen, wird dereinst in den Geschichtsbüchern stehen, dass Boris Johnson über eine Sexposse im Carlton Club stürzte.

Aus dem Englischen von Matthias Fienbork