Dieser Text erschien erstmals in der E-Paper-Ausgabe am 6. Oktober 2023.

Das gestellte Thema enthält im letzten Teilsatz ein Ziel, das zu erreichen ausgesprochen schwierig bis unwahrscheinlich sein wird. Die SPD hat bei der letzten Bundestagswahl 2021 25,7 Prozent der Zweitstimmen erreicht. In Umfragen liegt sie inzwischen noch unter diesem Wert – im Schnitt bei 17 Prozent. Von dieser Basis aus wird sie die alte Stärke nicht erreichen.

Um die jetzige Situation der SPD zu begreifen, macht es Sinn, ihre Wahlergebnisse vom Anfang der Bundesrepublik Deutschland bis heute anzuschauen: Die SPD startete 1949 mit 29,2 Prozent. Zwanzig Jahre lang wurde Deutschland von Kanzlern der CDU/CSU regiert. Den für einen Kanzlerwechsel notwendigen Durchbruch erzielte die SPD erst im Jahre 1969 mit 42,7 Prozent. Dank dieses Wählervotums wurde Willy Brandt zum Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition gewählt. Seine Regierung begann mit der notwendigen Reformpolitik und vor allem mit der sogenannten Ostpolitik. Mit Gewaltverzichtsverträgen mit Moskau, Warschau, Prag und später dann mit dem Verkehrs- und dem Grundlagenvertrag mit der DDR wurde die Welt verändert. Der Kalte Krieg wurde damals beendet, nicht erst 1990.

Die Entspannungspolitik passte einigen Abgeordneten von SPD und FDP nicht. Nacheinander verliessen im Vorfeld der 1973 anstehenden Wahlen je vier Abgeordnete von SPD und FDP ihre Partei. Im Mai 1972 hatte die sozialliberale Koalition ihre Mehrheit verloren. Mitte September 1972 wurde in Umfragen für die Opposition, also für CDU und CSU, ein Wert von 51 Prozent gemessen, für die SPD 41 Prozent.

Wenn man die Frage beantworten will, wie heute die Lage der SPD verbessert werden könnte, dann kann man aus der damals geplanten und vollzogenen Aufholjagd einiges lernen. Ich war zu jener Zeit für den Wahlkampf der SPD verantwortlich und weiss deshalb ziemlich genau, was zwischen September und dem 19. November 1972 den Umschwung gebracht hat und mit 45,8 Prozent zum bisher besten Ergebnis der SPD geführt hat. Das Wichtigste, auch für heutige Wahlkampfplaner und Analytiker: Der damalige Erfolg der SPD war nicht auf eine Ursache zurückzuführen. Darauf weise ich ausdrücklich hin, weil der Fehler, Wahlerfolge oder Wahlverluste monokausal zu erklären, immer wieder gemacht wird.

Nummer 1 der Gründe für den Wahlerfolg: Schlanke Entscheidungsstrukturen. Diese Ursache des Wahlerfolgs von 1972 wird nirgendwo erwähnt. Ich muss dazu eine kleine Geschichte erzählen: Die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit/Wahlen der SPD hatte in Zusammenarbeit mit der Werbeagentur ARE das Wahlkampfkonzept entwickelt. Von den wenigen Exemplaren des Planungspapiers erhielt eines der Bundesgeschäftsführer der SPD Holger Börner, dann selbstverständlich der Parteivorsitzende Willy Brandt und seine Stellvertreter Helmut Schmidt, Herbert Wehner und Heinz Kühn sowie der Schatzmeister Alfred Nau.

Am Samstag, dem 8. Juli, war ich zu einer Besprechung des Planungspapiers mit Willy Brandt in seinem Haus auf dem Venusberg geladen. Wir berieten das Konzept und jede einzelne Kampagne. Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn, ob sich seine Vorsitzenden-Kollegen zu unserem Wahlkampfkonzept geäussert hätten. Ich hätte nichts gehört. Willy Brandt meinte, auch er habe nichts gehört und wir sollten auch nicht darauf warten, «denn die wollen nicht gewinnen».

Diese Konstellation war einer der Gründe dafür, dass der Wahlkampf so gut lief und das Ergebnis so gut ausfiel. Wir konnten die vielfältigen Aktionen und Texte planen und gestalten, ohne von prominenten und schwierigen Personen behelligt zu werden.

Schlanke Entscheidungsstrukturen – einer der Gründe für den Wahlsieg. Es gab andere Gründe. Einige will ich nennen, weil sie aktuell sind und auch heute noch gelten:

Nummer 2: Wichtige, sozialdemokratische und die Gesellschaft interessierende Programmelemente. Sich vertragen, sich verständigen, Frieden schaffen mit den bisherigen Gegnern im Osten, mit Russen, Polen, Tschechen und Slowaken. Kurz: Entspannungs- und Friedenspolitik. Dieses wichtige, klare friedenspolitische Profil hat die heutige SPD durch den Kamin gejagt. Scholz redet über die Russen wie über Feinde. Und andere tun es ihm nach und unterscheiden sich in nichts von den Konkurrenten CDU/CSU, den Grünen und der FDP.

Eine besondere Rolle bei der Abkehr vom friedenspolitischen Profil der SPD spielt der Abgeordnete Michael Roth (SPD), seines Zeichens Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses.

Was kann die SPD in dieser Situation tun? Bundeskanzler Olaf Scholz und die Parteivorsitzenden müssten die Meinungsführerschaft bei diesem Thema zu übernehmen versuchen. Aber wahrscheinlich sind sie dazu viel zu schwach, oder sogar nicht einmal willens, weil sie keine sachlichen Unterschiede sehen, was man bei Scholz leider annehmen muss.

Andere Programmelemente aktueller Art wären die Wirtschaftspolitik und der Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Gibt es in der SPD noch Personen, die willens und fähig sind, die auch heute wieder notwendige, vom britischen Nationalökonomen Keynes geprägte aktive Wirtschafts- und Konjunkturpolitik zu betreiben? Sie wäre nötig und eine Hilfe zur Verbesserung der Wahlchancen.

Weiter auf dem Programmtableau: Wo sind die Köpfe für eine progressive Sozial- und Rentenpolitik, wo für den Anspruch, die Verteilung von Einkommen und Vermögen sozialdemokratisch besser, also gleicher zu machen?

Die Planer der SPD müssten auf die Suche nach weniger offensichtlichen, aber spannenden und viele Menschen betreffenden Probleme und Themen gehen. Ich will ein Beispiel nennen: das Phänomen, dass in nahezu allen grossen Unternehmen angelsächsische Kapitalsammelstellen mit geringen Anteilen die Unternehmenspolitik bestimmen. Man übertreibt nicht, wenn man feststellt, dass die deutsche Wirtschaft über weite Strecken fremdbestimmt ist. Das ist ein wichtiges Thema. Und es bietet obendrein die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Er war Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Deutschland, einer der erwähnten Kapitalsammelstellen. Man kann davon ausgehen, dass er das Problem der weitgehenden Fremdbestimmung der deutschen Wirtschaft nicht sehen will und nicht sehen kann. Jedenfalls wird es vermutlich möglich sein, aus dieser Fremdbestimmung ein grosses Thema und einen grossen Konflikt mit der politischen Konkurrenz zu machen.

In vielen Betrieben spüren die Beschäftigten schon die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft vom angelsächsischen Einfluss. Deshalb wäre dies für viele Menschen kein abstraktes Thema, sondern existenziell.

Nummer 3: Meinungsführerschaft, Kommunikation auslösen, Konfliktplanung. Das sind drei verknüpfte Bedingungen für Wahlerfolge. In Nummer 2, bei der Erörterung von Programm und Themen, ist schon sichtbar geworden, wie wichtig diese drei Elemente sind.

Nummer 4: Überwindung der Medienbarriere durch Mobilisierung von Menschen. Der grosse und für die meisten Beobachter überraschende Erfolg von 1972 war vor allem der Mobilisierung von Menschen zu verdanken. Bei der Planung war klar: Die SPD wird in den Medien keine grosse Unterstützung erfahren. Es wird darauf ankommen, den Einfluss von Medien zu neutralisieren und Menschen zu Trägern von Informationen und von Sympathie zu machen. Das ist hervorragend gelungen, und es war kein Zufall. Die Wahlkampagne der SPD war bewusst auf die Mobilisierung von Menschen angelegt. Es gab fast kein Werbemittel und keine Informationsschrift, in der nicht auf die Notwendigkeit hingewiesen wurde, mit anderen Menschen zu sprechen. «Der Schlüssel zum Erfolg» sei der «Aufbau einer Gegenöffentlichkeit» gewesen, notierte ich in meiner Analyse des Wahlerfolgs.

Mit der Mobilisierung von Millionen Menschen als Multiplikatoren haben wir damals den Einfluss der Medien enorm reduziert. Genau so würde ich auch heute einen Wahlkampf der SPD anlegen. Die Medienkonstellation ist heute für die SPD nicht besser als damals. Die SPD ist auch heute auf Multiplikatoren jenseits der Medien angewiesen. Das verlangt die ständige und gute Information und zugleich die Emotionalisierung der Anhänger.

Nummer 5: Attraktive Köpfe. Gemessen an früheren Personalkonstellationen muss man das jetzige Personalangebot der SPD als dünn betrachten: Lars Klingbeil und Saskia Esken als Vorsitzende. Wie will man mit dem aus einer Bundeswehrfamilie kommenden und dieser Tradition verpflichteten Klingbeil das Thema Entspannungspolitik neu beleben? Schwierig. Es wäre etwas leichter, wenn man den Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich in die Personalplanungen einbezöge.

Andere Personen im Vorstand der SPD sind -öffentlich nicht so bekannt, dass man auf sie als Reserve zurückgreifen könnte. Auch der Generalsekretär kommt nicht annähernd an ein Profil heran, das frühere Bundesgeschäftsführer der SPD, die die Rolle von Generalsekretären spielten, hatten. Ich erinnere an Hans-Jürgen Wischnewski, Holger Börner, Peter Glotz und Egon Bahr. Politisch interessierte Zeitgenossen wissen wahrscheinlich selbst heute noch mehr von diesen vier genannten Personen als vom amtierenden heutigen Generalsekretär der SPD. Wie heisst er noch mal gleich? Ja. Kevin Kühnert ist seit Dezember 2021 Generalsekretär der SPD. Wussten Sie das?

Fazit: Weil auf Personen und Personalisierung in Politik und Wahlkämpfen nicht verzichtet werden kann, wird bei der SPD dringend eine Art Wiederbelebung des Personalangebots nötig sein. Ob das geht mit dem vorhandenen Personal, ist fraglich.

Fast hätte ich es vergessen: Die wichtigste Person wäre eigentlich der amtierende Bundeskanzler. Ist die notwendige Belebung der Personalisierung in der Aussendarstellung der SPD mit ihm möglich? Hoffentlich wird an einem Konzept dafür gearbeitet.

Schöne Aussichten sind das nicht.

 

Albrecht Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt
unter Willy Brandt und Helmut Schmidt. 1987–1994 war er für die SPD Mitglied des Deutschen Bundestages.

Die 3 Top-Kommentare zu "Von Willy Brandt lernen"
  • Maiskolben

    Ich weiß jetzt nicht so richtig was ich mit diesem Artikel anfangen soll. Es ist mir schlichtweg egal wann und wo diese Partei mal einen guten Lauf hatte. Diese Partei ist mittlerweile so überflüssig wie ein Kühlschrank bei den Eskimos

  • frank.w

    Ich möchte gar nicht, dass diese SPD wieder zur alten Stärke zurück findet! Seit die ins Linksextreme abgerutscht sind können die wegen mir gerne bald an der 5% Hürde scheitern und nie wieder auferstehen!

  • Janosh H.

    Dieser Zug ist leider abgefahren!