Für einen Aktivisten ist «Wilhelm Tell» ein gefundenes Fressen. Geht es darin doch um Freiheit und Knechtschaft, Menschenrechte und das Recht auf Widerstand. Irgendwie. Das Spielfeld, das dieses Irgendwie öffnet, nutzt der gewiefte Ostschweizer Theateraktivist Milo Rau in seiner ganzen Länge und Breite. Und darüber hinaus.

Denn natürlich inszeniert Rau am Schauspielhaus Zürich nicht «Wilhelm Tell», sondern irgendetwas eigenes «nach Friedrich Schiller». Damit ist die grösste Herausforderung schon einmal vom Tisch: Schillers Sprache. «Wilhelm Tell» wimmelt vor geflügelten Worten, von der Axt im Haus, die den Zimmermann erspart, bis zum Stärksten, der am stärksten ist allein. Wer sie zu erden verstünde, wäre ein grosser Regisseur.

Stattdessen lässt Rau die Schauspieler ein bisschen plaudern. Wir erfahren, dass die eine aus Visp kommt, das sechs Monate im Jahr im Schatten liegt; dass einer auf dieser Bühne schon einmal den Tell gespielt hat; und ein anderer auf derselben Bühne den Hamlet, inszeniert von Christof Schlingensief, als Hommage an die Skandal-Aufführung trägt er eine Nazi-Uniform. Wie in einer Nummernrevue treten auch die Laiendarsteller an die Rampe und erzählen aus ihrem Leben und manchmal etwas über Tell. Denn beim Casting hat man sie gefragt: Was ist Wilhelm Tell für dich?

Was ist Freiheit für dich? Auf die Idee, das Stück danach zu befragen, ist offensichtlich niemand gekommen.

Aber das Stück bleibt sowieso Nebensache, die Aufführung bietet «Wilhelm Tell» für Dummies. Getreu den Regeln, die Rau für das Theater in Gent verfasste, an dem er seit 2018 künstlerischer Leiter ist. Sein «Manifest» verbietet «die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne» und verfügt: «Die Autorschaft liegt vollumfänglich bei den an den Proben und der Vorstellung Beteiligten.» An dieser kühnen Selbstüberschätzung krankt auch diese Nach-Schiller-Inszenierung. «Milo Rau überführt ‹Wilhelm Tell› in die Gegenwart und prüft, ob er ihr standhält», heisst es grossspurig im Programmheft. Etwas bescheidener, aber viel interessanter wäre es, zu prüfen, ob und wie wir diesem über zweihundert Jahre alten Klassiker standhalten.

So wird hier alles mögliche verhandelt, was in der heutigen Schweiz entfernt mit Wilhelm Tell zu tun hat oder gar nicht. Pflichtschuldig arbeitet Rau die Checkliste des woken Zeitgeistes ab, der im «Zchauspielhaus Sürich» angesagt ist: Die Allgegenwart von Rassismus und Sexismus, die Unterdrückung der Farbigen (PoC), Ausländerfeindlichkeit, Flüchtlingselend, Polizeigewalt, Umgang mit Behinderten und Pflegenotstand. Auch Bührle bekommt sein Fett weg, für dessen toxische Bildersammlung die Zürcher eine «Zwing-Burg» errichtet haben wie einst die Urner für den Gessler. Eine Frau berichtet, wie sie in den 1960er Jahren als Kind von der Vormundschaftsbehörde ihrer Mutter weggenommen, in ein Heim gesteckt wurde und dann bis zur Volljährigkeit drei Jahre in einer Spinnerei arbeiten musste, die Bührle gehörte.

Ein bunter Reigen dreht sich da, manchmal unterhaltsam, gelegentlich berührend, meist banal. Angereichert wird er mit Musik, Ton- und Videoeinspielungen wie jener, in der zwei der Laiendarsteller vor der Wasserkirche ihr Hochzeitsfest feiern: eine Schweizer Soldatin, «die erste Füsilier-Offizierin, die es je gegeben hat», und ein Sans-Papiers aus Eritrea. Gemessen an der Komplexität von Schillers Stück und der Raffinesse, mit der darin die Handlungsstränge verwoben werden, ist Raus Klamauk bloss oberflächliche Betriebsamkeit. Der Regisseur scheint seine Bestimmung als oberster Integrations- und Inklusionsbeauftragter des Theaters gefunden zu haben. «Höhepunkt» ist die als Gospel dargebotene Nationalhymne, zu der das Publikum zum Aufstehen aufgefordert wird, während das Ensemble sich selbst begeistert feiert.

«Mich interessiert die Geschichte von Tell gar nicht», sagt eine der Figuren und fasst damit diesen Theaterabend zusammen. «Mich interessiert die Geschichte von allen Menschen. Jede ist gleich interessant.» Dem ist, wie diese Aufführung zeigt, leider nicht so.