Die USA traten 2019 während der Amtszeit von Präsident Trump aus dem 1987 geschlossenen INF-Vertrag (Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme) aus mit der Begründung, die Russen hätten die Vereinbarung umgangen. (Die Vertragsverpflichtungen waren von Russland nach Auflösung der Sowjetunion akzeptiert worden, wie es auch beim ABM-Vertrag der Fall gewesen war.) Mittelstreckenraketen sind definiert als Boden-Boden-Raketen mit einer Reichweite von 800 bis 5500 Kilometern – länger als Gefechtsfeldwaffen, kürzer als Langstreckenwaffen wie ICBMs (Interkontinentalraketen). Die behauptete Täuschung war formaler Natur, und tatsächlich behaupteten sowohl die USA als auch Russland mit plausiblen Argumenten, die jeweilige Gegenseite würde den Zweck – oder gar den Wortlaut – des Vertrags verletzen.

Egal ob nun eines, beide oder keines der Länder formal gesehen gegen den Vertrag verstossen hat, ausschlaggebend ist, dass sich die USA einseitig zurückgezogen haben, anstatt sich aktiv um eine Lösung der Probleme zu bemühen. Möglicherweise witterten die Amerikaner dabei einen militärischen Vorteil, weil die fraglichen Raketen in Europa in der Nähe Russlands stationiert werden sollten, während Russland nicht geplant hatte, Waffen in ähnlicher Entfernung zu den USA zu stationieren. Zudem war wohl der Vorwurf des Verstosses durch Russland in erster Linie ein Vorwand der USA, um aus dem Vertrag auszusteigen und Mittelstreckenraketen gegen China stationieren zu können, dessen Bemühungen, bei Nuklearwaffen gleichzuziehen, durch den Vertrag von 1987 nicht eingebremst wurden.

Abgesehen von China, dürfte der Ausstieg der USA aus dem Vertrag vor allem auf einen taktischen Vorteil gegenüber Russland abgezielt haben. Dabei wurden grössere strategische Gefahren in Kauf genommen – zum Beispiel: das Risiko, ein erneutes amerikanisch-russisches nukleares Wettrüsten auszulösen; Russland in eine Lage zu zwingen, in der es bereits bei kleinen Störungen zum Angriff bereit ist; die Entwicklung neuer russischer Kernwaffenklassen anzuregen; Russland dazu zu bringen, diese neuen Waffen in ähnlicher Entfernung von US-Territorium zu stationieren; sowie die Destabilisierung der politischen Beziehungen zwischen den USA und Russland auf eine solche Art, die ihre Fähigkeit untergraben könnte, eine nukleare Krise zu entschärfen.

Major Brennan Deveraux, ein auf Raketenartillerie und Raketenkrieg spezialisierter Stratege der US-Armee, wies in einem am 28. Januar 2022 auf der militärischen Insider-Website «War on the Rocks» veröffentlichen Kommentar auf dieses Problem hin:

«Das westliche Narrativ ist simpel: Bodengestützte [Mittelstrecken-]Raketen bieten den USA und der Nato neue Möglichkeiten, mit einem wiedererstarkenden Russland und einem aufstrebenden China besser fertig zu werden. Dieser Ansatz übersieht jedoch die strategischen Auswirkungen des Einsatzes dieser Raketen und vernachlässigt eine mögliche russische Reaktion.»31

«Die USA stehen mit ihren Raketen vor unserer Haustür.»

Russland war zutiefst beunruhigt, denn neue, grenznah stationierte US-Raketen könnten bedeuten, dass die USA glauben, im Krisenfall eher einen präventiven Erstschlag ausführen zu können, durch welchen die russischen Kommando- und Kontrollsysteme ausgeschaltet und Russlands Fähigkeit zu einem Vergeltungsschlag verringert werden. Wenn sie mit einem auch nur teilweise wirksamen ABM-Netzwerk abgestimmt werden, schüren Mittelstreckenwaffen somit auf russischer Seite Befürchtungen, dass die Vereinigten Staaten nichts mehr zurückhält. Diese Ängste sind nicht bloss russische Paranoia. Wie zwei von Deveraux zitierte Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erklärten, könnten diese Raketen «Moskaus Kommandostrukturen bedrohen und Russlands militärische Handlungsfähigkeit einschränken». Für Russland wäre also durch die Rettung des INF-Vertrags viel zu gewinnen gewesen. Doch die USA blieben entschlossen und stiegen aus.

Nachdem der Ausstieg aus dem Vertrag eine vollendete Tatsache war, bemühte sich Russland um neue, gegenseitige Beschränkungen und Moratorien für die Stationierung von Raketen. Diese hätten es den USA und Russland ermöglicht, ihre eigenen, aufeinander gerichteten Waffen ausser Kraft zu setzen und gleichzeitig Waffen auf China zu richten. Die Amerikaner lehnten den russischen Vorschlag jedoch ab. Major Deveraux merkte an, dass die Reaktion des Westens «nicht nur die Bedenken Russlands ignorierte, sondern die Wiedereingliederung dieser Raketen [in seine Streitkräftestruktur] als Selbstverständlichkeit behandelte und sich fast ausschliesslich auf den relativen Vorteil konzentrierte, den ihre Stationierung den USA und der Nato verschaffen könnte».

Zudem beschrieb Deveraux, wie die einzelnen Bereiche des US-Militärs sich um die neuen Raketen bemühten:

«Statt interner Debatten über die strategischen Auswirkungen der Wiedereinführung dieser Raketen konzentrierte sich die öffentliche militärische Diskussion auf die Frage, welcher Teil der Streitkräfte für den Einsatz und die Entwicklung zuständig sein wird. Das implizierte, dass der Einsatz der neuen Raketen und ihre Stationierung im Ausland bereits eine ausgemachte Sache war.»

Tatsächlich hat Putin im letzten Jahr wiederholt seine Besorgnis über solche Stationierungen zum Ausdruck gebracht. Noch einmal Deveraux:

«Im Oktober 2021, ganz zu Beginn der aktuellen Ukraine-Krise, drückte Putin aus, wie frustriert er über die internationale Gemeinschaft bezüglich seines vorgeschlagenen Raketenmoratoriums war: ‹Hat überhaupt irgendwer auf unsere Erklärung reagiert, dass wir diese Art von Raketen nicht in Europa einsetzen werden, falls wir sie produzieren, wenn sie uns versichern, dass niemand aus den USA oder der EU dies tun wird? Nein. Sie sind nie darauf eingegangen.› In einer Pressekonferenz im Dezember knüpfte er daran an und sagte: ‹Positionieren wir unsere Raketen vor den Grenzen der USA? Nein, das tun wir nicht. Doch die USA stehen mit ihren Raketen vor unserer Haustür.›»

Die genauen Beweggründe für Putins Invasion der Ukraine sind nicht bekannt, aber wahrscheinlich war ein Zusammentreffen verschiedener Faktoren ausschlaggebend: 1. die laufende Bewaffnung und Ausbildung nach Nato-Standards und die Integration der militärischen Strukturen der Ukraine, der USA und anderer westlicher Mächte durch Vereinbarungen ausserhalb der Nato; 2. die ständige Drohung, die Ukraine werde in die Nato aufgenommen; und 3. die Besorgnis über die mögliche Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, verstärkt durch die Sorge, die USA könnten in der Ukraine offensivfähige ABM-Abschussvorrichtungen vom Typ Aegis stationieren, auch wenn die Ukraine noch nicht ein Mitglied der Nato ist.

Hinsichtlich des letzten Punkts hatte Putin angesichts der laufenden und fortschreitenden militärischen Abstimmung zwischen den USA und der Ukraine womöglich das Gefühl, dass sich das Zeitfenster schliesst, in dem die Stationierung offensivfähiger Aegis-Abschussvorrichtungen in der Ukraine verhindert werden kann, und dass er umgehend handeln muss, wenn er diese Bedrohung abwenden will. Das ist zwar alles eine Spekulation, doch es ist plausibel und passt zu den von Russland zuvor geäusserten Bedenken. Welche Gründe auch letztlich zur Invasion geführt haben, die Bedrohung durch neue Aegis-Stationierungen war wie das zusätzliche Schäufelchen Sand, das man auf eine Sandburg draufschüttet, bevor sie endgültig einstürzt.