Der Sänger Gil Ofarim liess vor Gericht die Katze aus dem Sack – er gestand, nicht die Wahrheit erzählt zu haben. Vor zwei Jahren beschuldigte der 41-Jährige fälschlicherweise ein Leipziger Hotel und einen Mitarbeiter des Antisemitismus; nach Ermittlungen stellte sich heraus, dass die Realität anders aussah. Ofarim hat sich mittlerweile beim Mitarbeiter entschuldigt.
Aber weg von Ofarim, hin zu einem Phänomen, das wir alle nur zu gut kennen: der schnellen Meinungsbildung und den Überreaktionen in der heutigen Gesellschaft. Noch bevor die Untersuchungen begonnen hatten, war das öffentliche Urteil längst gefällt: Hotel und Mitarbeiter galten als schuldig. Menschen demonstrierten vor dem «Westin», in den sozialen Medien brodelte die Empörung, selbst renommierte Zeitungen spielten mit. Einige Politiker forderten sogar öffentlich die Entlassung des Mitarbeiters und heizten die Entrüstung weiter an – allesamt reagierten sie, ohne ausreichende Fakten oder Hintergrundinformationen.
Ist es nicht menschlich, seine Empörung über eine Untat kundzutun? Manchmal wollen wir doch einfach unser Mitgefühl zeigen, bevor die ganze Faktenlage auf dem Tisch liegt. Unsere Emotionen sind dann so erfolgreich, dass sie die rationale Bewertung eines Vorfalls komplett überdecken. Psychologen könnten dafür eigentlich einen neuen Begriff erfinden – «Emotions-Bias»; wenn unsere Gefühle vorschnelle Urteile fällen (Experten sprechen von «Availability Bias» und «Confirmation Bias»; wenn Menschen schnelle Urteile aufgrund leicht verfügbarer Informationen treffen beziehungsweise nach Informationen suchen, die ihre bestehenden Meinungen bestätigen).
Manchmal wollen wir doch einfach unser Mitgefühl zeigen, bevor die Faktenlage auf dem Tisch liegt.
Die sozialen Medien haben viele Vorteile, aber als moderne Kampfarenen tun sie ihr Übriges, um diese Entrüstungskultur zu fördern. Informationen sind in Sekundenschnelle verfügbar, und wenn wir nicht sofort reagieren, gibt es keine Likes, keine Shares, kein Abo! Ohne ständige Anerkennung fühlen sich einige gewiss wie Aussenseiter. Ähnlich wie damals im Kolosseum im antiken Rom, wo Verbrecher, vermeintliche Verbrecher, Kriegsgefangene und Sklaven zwecks Unterhaltung der Zuschauer in die Arena geschickt wurden, um gegeneinander oder gegen exotische Tiere zu kämpfen, werden Betroffene heute auf den digitalen Schauplatz gezerrt, während die Menge tobt, sich moralisch überlegen fühlt und nach mehr Drama verlangt. Wir haben uns, so scheint’s, nicht grossartig weiterentwickelt. Der Unterschied zu damals ist, dass in den heutigen Kampfschauplätzen Millionen ihre Daumen nach unten recken und Betroffene unter Befriedigung der Massen zum Abschuss freigegeben werden.
All das heisst nicht, dass man einer Person nicht glauben sollte. Natürlich muss man hinhören, kann solidarisch sein und dem Betroffenen Glauben schenken. Einfach alles anzuzweifeln, ist gewiss auch keine Lösung. Aber Solidarität geht auch ohne übereifrige Skandalisierung. Manchmal ist es nicht das Dümmste, sich mit vorschnellen öffentlichen Verurteilungen zurückzuhalten und etwas Distanz zu wahren, bevor die Sachlage geklärt ist.
Politiker sind besonders gefragt. Es ist keine Hexerei, zu betonen, dass eine gründliche Untersuchung abgewartet werden muss, bevor sie ihr Statement abgeben; vielleicht könnten sie ja mal die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit und Unschuldsvermutung unterstreichen und erwähnen, dass Vorverurteilungen unschuldige Personen ziemlich in die Bredouille bringen können. Das bringt nicht viele Likes auf X (Twitter), langfristig aber dürften sie damit mehr Vertrauen in der Gesellschaft gewinnen als mit überstürzten Stellungnahmen, die wirklich keinem weiterhelfen.
Was kann die Gesellschaft aus dem Schlamassel lernen? Mehr kritisches Denken und Medienkompetenz würden nicht schaden. Bildungsanstalten könnten vermehrt darauf abzielen, Schülern beizubringen, nicht alles für bare Münze zu nehmen, was serviert wird, und kritisch zu hinterfragen. Öffentliche kontroverse Debatten könnten auch mal ohne das digitale Getöse geführt werden. Allerdings: Die sozialen Medien sind nun mal unumkehrbar Teil unserer Realität. Und es gibt ja nicht umsonst dieses Sprichwort, das mit dem Geist und der Flasche.
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Warum haben so viele Pseudonyme - ich schließe mich mit ein-? Weil dann das Gesagte und Geschriebene keine Konsequenzen hat. Locker schreibt man dieses und jenes.. wenn es nicht passt, streicht es - hier z.B. die WW. Also Verantwortung ade; wir schieben den Schwarzen Peter anderen zu; und wir wissen, bei so vielen Säuen die täglich durch das Dorf getrieben werden, ist übermorgen alles vergessen.
P.S. Ich schrieb bisher immer unter vollem Namen und Adresse, bis man mich aus dem Verkehr zog.
Wer sich mit der Sprache, der Formulierung, der Linguistik und der Kraft von Bildern auch nur ein Stück auskennt, merkt sofort, wann welche Meinungen von wem in die Welt gesetzt werden. Pyramidenförmig von oben nach unten ... am Schluss die Medien. Wenn ich das weiss, ist alles andere nur Logik eines Dominospiels.
Kommt auch aufs Thema und Plattform an, ob eine freie Debatte überhaupt möglich ist. Nennenwerte Meinungsfreiheit bei politisch brisanten Themen gibt es nur auf x.com (Twitter), rumble.com und odysee.com. Weder Youtube, noch Facebook, Instagramm oder Reddit sind frei. Meine Meinung.
Das war nie anders. Die Gesellschaft hatte sich schon seit Jahrhunderten 'eine Meinung' gebildet in Unkenntnis oder gar unter Missachtung der Fakten. Die Idee, man müsse zuerst untersuchen und aufklären, bevor man verurteilen könne, kam mit der Aufklärung in Europa. In anderen Weltteilen ist dies noch immer nicht die Regel und bei uns geht es zunehmend wieder vergessen.
Früher brauchte es die Brüder Grimm u.a. die den Menschen Märchen erzählten. Heute haben wir Politiker und Medien! Die Märchen sind nicht besser geworden!
Die Causa "Corona-Pandemie" hat die Glaubwürdigkeit, m. E., irreparabel beschädigt. Wenn Politiker die Grundrechte der Bürger wider besseres Wissen einschränken, per Notrecht mit Zwangs-/Verfassungsschutzmassnahmen überziehen, Gegenmeinungen zensuriert, bezahlbare Energieversorgungen wegsprengen etc., um sich danach via alimentierte Medien und Justiz wegzuducken, kommt das Kritischsein einem Kraftakt gleich. Wo/wie soll sich der Bürger orientieren, wenn alle sich gegen ihm verschworen haben?
Sehr guter Artikel, danke.
Überall wird mit Emotionen anstelle Fakten berichtet. Schon an den Worten kann man erkennen, ob recherchiert und Fakten abgewogen wurden. Alles Schnelle fällt bei dieser Nagelprobe bereits durch. Schnelle Berichterstattung hat den Makel oberflächlich und emotional zu sein.
Durch das sekundenschnelle Kopieren und verbreiten wird ein Fehler nicht richtiger. Die Massenmeldungen sind nicht automatisch richtig, im Gegenteil.
Im Zweifel die WW etwas verspätet lesen 😉
Was heute "sozialen Medien" = kommerzielle digitale Kommunikationsplattformen sind, waren in den 1960er - 1970ern Boulevardmedien und Revolverblätter. Charles Mackay beschrieb schon 1841 Vor- und Fehlurteile in der Öffentlichkeit [Zeichen und Wunder. Aus den Annalen des Wahns (Memoirs of extraordinary popular delusions and the madness of crowds)]. Dem liegen wohl auch magische Vorstellungen bei manchen Bürgern zugrunde. Da hilft nur Aufklärung und dann eigenes Denken und logisches Urteilen.
Der fragliche Mitarbeiter hatte auch Glück, dass sein Arbeitgeber sich zügig an seine Seite gestellt und ihm den Rücken gestärkt hat. Leider gibt es immer mehr Fälle von Vorverurteilungen auch durch die Justiz und wie es scheint, sogar eine politisch manipulierte oder stark von persönlichen Werturteilen von Richter/-innen und Staatanwälten/-innen Schlagseite des deutschen Rechtswesens. Aktuell gibt's dazu ein Interview von Boris Reitschuster auf YT.
Normalerweise heißt es: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Das, was dieser vermeintliche „Promi“ mit seiner Aktion losgetreten hat, stellt sich im Nachhinein als Ungeheuerlich dar. Gelogen, daß sich die Balken bogen und die Medien haben fleißig mitgemacht. So etwas gehört sich nicht, verdeutlicht aber wieder, welches niedrige Niveau die dt. Medien erreicht haben. Wenn diese jedoch mehrheitlich grün unterwandert sind, wundert mich nichts mehr.
Wieso bekommt dieser Heulbubi so viel unverdiente Aufmerksamkeit?
Die sozialen Medien sind im Gegensatz zu dem, was Sie, liebe " LadyTamara" schreiben, keineswegs Teil meiner Realität. Die Stürme im Wasserglas, die diese Medien entfachen sind mir schnurzpiepegal. Ich gehörte anfangs der 80er zu den Ersten in meinem Bekanntenkreis die einen Computer programmiert haben und anfangs der 90ger zu den Ersten, die Zugang zum Internet hatten. Ich habe jedoch nie Facebook Twitter etc geöffnet. Ich habe deshalb nicht den Eindruck,dass die Realität an mir vorbei ginge.
Es wird sehr wohl unterschieden. Viele tun alles als Fakes ab. Andere glauben alles. Es reagiert jeder wie es ihm passt. Leider sind die Konsequenzen nur für die Betroffenen schlecht. Die andern schleichen sich einfach in die Anonymität.
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Die sozialen Medien sind im Gegensatz zu dem, was Sie, liebe " LadyTamara" schreiben, keineswegs Teil meiner Realität. Die Stürme im Wasserglas, die diese Medien entfachen sind mir schnurzpiepegal. Ich gehörte anfangs der 80er zu den Ersten in meinem Bekanntenkreis die einen Computer programmiert haben und anfangs der 90ger zu den Ersten, die Zugang zum Internet hatten. Ich habe jedoch nie Facebook Twitter etc geöffnet. Ich habe deshalb nicht den Eindruck,dass die Realität an mir vorbei ginge.
Es wird sehr wohl unterschieden. Viele tun alles als Fakes ab. Andere glauben alles. Es reagiert jeder wie es ihm passt. Leider sind die Konsequenzen nur für die Betroffenen schlecht. Die andern schleichen sich einfach in die Anonymität.
Wieso bekommt dieser Heulbubi so viel unverdiente Aufmerksamkeit?