Mit fünfzehn Jahren konnte Alice Weidel bereits Auto fahren. Sie steuerte nicht irgendeinen Wagen, sondern den «dicken Mercedes» ihres Vaters. Den Führerschein erhielt sie dann mit achtzehn im Eiltempo und liess es sich nicht nehmen, mit «ihrem» Mercedes – diesem Inbegriff deutscher Qualitätsarbeit – in der Schule vorzufahren. Die heutige Partei- und Fraktionschefin der Alternative für Deutschland (AfD) polarisierte schon damals – und dies ganz bewusst. Das Milieu am Jugenddorf-Christophorusschule- Gymnasium im ostwestfälischen Versmold war «sehr links», wie sie erzählt. Das zeigte sich auch äusserlich: Die Lehrer steckten ihre nackten Zehen in Birkenstock-Sandalen und trugen ungepflegtes Haar und wirre Bärte. Als es darum ging, die Leistungsklasse zu wählen, entschied sich «Lille», wie Alice Elisabeth Weidel gerufen wurde, für einen Lehrer «alter Schule», der Mathematik und Physik unterrichtete und sich durch seine gepflegte Erscheinung schon optisch von den Kollegen abhob.

Es sind Szenen mit Symbolcharakter: Alice Weidel ist bis heute ein wandelnder Gegenentwurf zur links-grün angehauchten deutschen Schlampigkeit. Das gilt für ihren äusseren Auftritt wie für ihre konsequent wirtschaftsliberale no bullshit-Politik.

«Wackeldackel, die alles abnicken»

Wir treffen Weidel in ihrem stilvoll eingerichteten Büro im Deutschen Bundestag – der Blick geht auf das historische Reichstagsgebäude und den Tiergarten. Mit raschen Schritten tritt sie uns entgegen, das Gesicht wirkt freundlich und offen, sie trägt Jackett, eine Bluse mit Einstecktuch, dazu Bluejeans und weisse Turnschuhe, wie man es kennt von ihr. In der deutschen Öffentlichkeit – und erst recht bei ihren politischen Gegnern – ist Weidel vor allem als knallharte Oppositionspolitikerin bekannt, die austeilt. Wir machen die Probe aufs Exempel: «Wie beurteilen Sie den Zustand der Bundesregierung am Jahresende 2022?» Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Katastrophal, kopflos, ohne Strategie.» Der Ampelkoalition von SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen fehle es nicht nur an kurz-, mittelund langfristigen Lösungsansätzen, sondern schon am Problemverständnis. Das Bundeskabinett um Kanzler Olaf Scholz besteht für Weidel aus politischen «Laienschauspielern» und «Wackeldackeln, die alles abnicken». Jeder Satz ist eine Kampfansage.

Weidel sieht Deutschland, den «Geldgeber und Wirtschaftsmotor in der Mitte Europas», auf den Abgrund zurasen, mit dramatischen Folgen für den Kontinent: Wohlstandszerfall, Bildungsverlust, Geldentwertung und die «sterbende Gemeinschaftswährung» Euro, die niemals funktionieren könne, nennt sie als Stichworte.

Skepsis gegenüber dem Staat

Dieser Fokus auf Zahlen und ökonomische Zusammenhänge kommt nicht von ungefähr: Weidel kann rechnen, und sie hat sich in ihrer akademischen und beruflichen Karriere immer mit Finanzfragen auseinandergesetzt. Das liberale Credo bekam sie von ihrem Vater mit. Während sie in der Schule lernte, dass der Staat gut und der Markt böse sei, impfte ihr der Vater, ein Handelsvertreter für Möbel und Einrichtungsobjekte, eine gehörige Skepsis gegenüber der staatlichen Obrigkeit ein. 1939 geboren, erlebte der Vater als Kind den Zweiten Weltkrieg. Seine schlesische Heimat verliess er mit dem Vorrücken der Roten Armee an der Ostfront. «Dieser Verlust prägte ihn», sagt Alice Weidel. Und als Kompensation dafür habe er sehr viel in die Erziehung und Ausbildung der Kinder investiert. Mit Erfolg, wie das Resultat zeigt: Weidel und ihre beiden Geschwister können zusammen fünf vollwertige Studienabschlüsse vorweisen.

«Lille» war ein «Nesthäkchen», sie hat «Baujahr » 1979, wie sie burschikos formuliert. Die Eltern weckten die Kinder jeweils morgens früh um sechs, immer schon angezogen. Gemeinsam nahm man das Frühstück ein. Der Vater legte Wert auf musische und sportliche Erziehung, die jüngste Tochter spielte Klavier und Tennis, es war das Zeitalter von Boris Becker und Steffi Graf, als deutsche Mittelstandskinder auf den Tennisplätzen Schlange standen. Und er brachte ihr bei, wie man eine seriöse Buchhaltung führt – etwas, das sie in der Schule nicht lernte.

Weidel studierte in Bayreuth Betriebs- und Volkswirtschaft im Doppelstudium. Ihr Weg führte sie von der beschaulichen Universitätsstadt in die weite Welt. Nach dem Vordiplom verbrachte sie ein Jahr in Japan mit einem Stipendium des japanischen Staates, sie arbeitete währenddessen in den Semesterferien als Praktikantin im Private Banking der Credit Suisse in Singapur, vor allem aber prägte sie ihr mehrjähriger Aufenthalt in China. Ab 2006 lebte sie in Schanghai und Peking. Ihren Kernthemen blieb sie treu: Sie verfasste wissenschaftliche Arbeiten über den Bankensektor im Übergang von der Staats- zur Marktwirtschaft und eine Dissertation zu Reformoptionen im chinesischen Rentensystem. Das wäre das klassische Sprungbrett für eine Karriere beim Internationalen Währungsfonds oder bei der Weltbank gewesen – doch für Weidel waren diese bürokratischen Riesen schlicht «zu wenig dynamisch ».

Stattdessen zog es sie in die Beratungsund Finanzbranche. Für eine internationale Unternehmensberatung begleitete sie Markteintrittsprojekte und beriet unter anderem die Bank of China. Sie verdiente «ordentlich» für ihr junges Alter und wohnte in einer vom Arbeitgeber bezahlten 300-Quadratmeter- Wohnung über den Dächern von Peking. Es war ihre Welt: Während sie im patriarchalisch geprägten Japan aufgrund ihres Geschlechts regelmässig aussen vor bleiben musste, war die Stellung der Frau im kommunistischen China völlig anders: «Ich habe nie so viele Frauen in Führungspositionen gesehen.»

Von China lernen

Weidel lernte schnell – und profitiert davon bis heute, gerade im männerlastigen, der Macho-Kultur nicht gänzlich abgeneigten AfD-Umfeld. Dazu zitiert sie den schönen chinesischen Spruch: «Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels. »

Besonders inspiriert wurde sie von einer chinesischen Projektleiterin, die zu ihrem Vorbild in Führungsfragen wurde: Neben ihrem enormen Fleiss beeindruckte sie Weidel durch den stets sachlichen Ton und dadurch, dass sie den Stress nicht auf das Team übertrug. Diese Eigenschaften wirkten Wunder in einer Szene, welche geprägt war von den Sprösslingen der staatlichen Ein-Kind-Politik, die alle an den besten amerikanischen Universitäten studiert hatten und sich wie «kleine Kaiser» fühlten. Es war ein «Fegefeuer der Eitelkeiten», aber auch ein Milieu, das mit Leistungswille und Ehrgeiz durchtränkt war: «Die Chinesen wollen alle nach vorne.»

Das scheint wie das Gegenbild zum Deutschland dieser Tage, das aus ideologischen Gründen die Energieversorgung aufs Spiel setzt oder die hundertjährige Erfolgsgeschichte des Verbrennungsmotors kappt. Mit dieser Politik drohe Deutschland im internationalen Wettbewerb den Anschluss zu verlieren, mahnt Weidel, denn ohne Energiesicherheit lasse sich ein Industriestaat nicht unterhalten.

NDR schimpfte sie «Nazi-Schlampe»

Doch weiter in ihrem Lebenslauf, der nur eine Richtung zu kennen scheint: aufwärts. Weidel kehrte nach Deutschland zurück und arbeitete in der Finanzmetropole Frankfurt für Allianz Global Investors. Anders als in China galten Frauen in Führungspositionen hier als Rarität. Anstelle des Wettbewerbs gab es Diversity- Programme, wobei die immer übel nach Vitamin B gerochen hätten. Frauenquoten in Aufsichtsräten und anderen Gremien hält Weidel für «hochgradig absurd». Die Leistung müsse zählen. Es sei «diskriminierend», wie mit Männern in dieser Frage umgegangen werde.

Apropos Umgang mit Männern: In ihrer Laufbahn hatte es Weidel ständig mit hohen Tieren, mit «Silberrücken», zu tun. Wie packt man die? «Führen durch Fragen», lautet ihr Rezept. So kann man sie subtil dahin lenken, wo man sie haben will.

Dies alles deutet nicht im Geringsten auf eine politische Laufbahn hin – und doch verdankt Weidel der Politik die Zündung der nächsten Karrierestufe. Inzwischen ist sie wohl Deutschlands berühmteste, sicher aber umstrittenste und mutigste Politikerin. Mutig deshalb, weil sie dem von politischer Korrektheit, historischen Eiertänzen und überschäumendem Moralismus geleiteten öffentlichen Diskurs fadengerade und ehrlich ihre abweichenden Ansichten entgegenhält. Sie sagt der Nation jeden Tag, was diese nicht hören will, legt den Finger auf die wunden Punkte – und wird dafür gebasht und gegrillt wie keine andere Frau in diesem Land.

Nun könnte man meinen, dass die politische Newcomerin AfD, die 2017 auf Anhieb mit 94 Mandaten als drittstärkste Fraktion in den Bundestag einzog, als demokratische Kraft mittlerweile akzeptiert sei. Doch weit gefehlt: Trotz – oder vielleicht wegen – ihres Erfolgs bei den Wählern wird die liberalkonservative Partei vom Medien- und Polit-Establishment abgestraft. Die Ausgrenzung sei fast noch schlimmer geworden als zu Beginn. Dass dem tatsächlich so ist, lässt sich belegen: Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern findet die AfD praktisch nicht statt. Weidel und Tino Chrupalla, Co-Fraktionschef und Co-Bundessprecher (Parteivorsitzender), wurden im laufenden Jahr nur je einziges Mal in eine Talkshow bei ARD und ZDF eingeladen.

Vom linken Mob aus Biel verjagt

Alice Weidel musste sich dafür vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) als «Nazi-Schlampe » beschimpfen lassen – und die Gerichte fanden das okay. Wie reagiert man, wenn ständig aus allen Rohren auf einen geschossen, wenn man überall mit Dreck beworfen wird? «Am Anfang habe ich mich über jeden schiefen Halbsatz geärgert», sagt Weidel. Als «Stereotyp einer Perfektionistin» sei es schwer erträglich für sie gewesen, unrichtige Dinge über sich zu lesen. Doch mittlerweile sei ihr das «alles egal» – abgesehen davon, dass sie schon quantitativ nicht nachkäme, sämtliche Anwürfe zu kontern. Dabei helfe es, die Politik als Schauspiel zu betrachten: «Ich betrete als politischer Mensch Alice Weidel die Bühne – und gehe wieder runter.»

Privat bewegt sich Weidel im denkbar grössten Kontrast zur Feuerzone der deutschen Politik: «Ich lebe sonst sehr, sehr zurückgezogen.»

Das entspreche ihrem Naturell. Vor dem Eintritt in die neugegründete Partei im Oktober 2013 hatte sie nicht einmal ein Social-Media- Profil. Lange verzichtete sie auf ein Mobiltelefon; ein Fernseher steht zwar zu Hause – aber das TV-Programm bleibt weitgehend ungenutzt. Mit ihrer Schweizer Lebenspartnerin, der aus Sri Lanka stammenden Filmemacherin Sarah Bossard, und deren beiden Söhnen lebt Weidel im Kanton Schwyz.

Doch es gelingt auch in der – aus Berliner Sicht – fernen Schweiz nicht immer, das Politische vom Privaten fernzuhalten. Ihren vorherigen Wohnort Biel verliessen sie 2017, weil der ältere Sohn im Kindergarten von den Kameraden geschnitten wurde; niemand wollte mehr mit ihm spielen. 2017: Das war das Jahr, als Alice Weidel als AfD-Spitzenkandidatin antrat. Darauf wandten sich «fast alle» Freunde im Umfeld der Lebenspartnerin von ihnen ab. Diesem Ausbruch der Intoleranz in der angeblich so toleranten linken Kulturszene kann Weidel aber auch etwas Positives abgewinnen: «Es war wie ein reinigendes Gewitter. Wir konnten aufräumen im Privatleben und wissen jetzt, wer ein richtiger Freund ist.»

Mit Biel will Alice Weidel nichts mehr zu tun haben, sonst aber bewegt sie sich hierzulande wie zu Hause, auch wenn ihr Hauptwohnsitz im baden-württembergischen Überlingen ist. «Ich bin eine patriotische Deutsche, aber ich fühle mich auch als Schweizerin», sagt sie.

Sie ist es zwar nicht auf dem Papier, aber «im Herzen». Hier findet sie Ruhe, hier schöpft sie Kraft in den politischen Feuerpausen – bei der Familie und in der Natur. «Ich bin sehr naturverbunden, deshalb gefällt mir die Schweiz besonders. »

Die Verbindung zur Schweiz und zu Schwyz besteht, seit sie als fünfjähriges Mädchen erstmals hier Ferien machte, in einem Chalet mit Blick auf den Kleinen Mythen: «Ich habe mich sofort in die Berge verliebt.»

Politik als Ventil

Auch ihren Einstieg in die deutsche Politik verdankt sich ihren Schweizer Verbindungen: Weidel liess sich beim gemeinsamen Abendessen jeweils derart pausenlos und penetrant über die Zustände in Deutschland aus, dass ihrer Lebenspartnerin der Kragen platzte. Bossard setzte ihr «die Pistole auf die Brust»: Entweder Weidel höre auf damit, sie ständig mit deutscher Politik zuzuquatschen, oder sie gehe. Weidel hielt fortan am Küchentisch den Mund und trat der AfD bei: «Ich brauchte ein Ventil.» So rettete sie ihre Beziehung – und will jetzt Deutschland retten.

Das ist nun seit nahezu zehn Jahren ihr «Schicksal», ihr «Auftrag», wie sie es nennt. Wie ernst es ihr damit ist, zeigte sich vor ein paar Wochen, als sie sich plötzlich krank fühlte. «Ich bin doch noch gar nicht fertig», zuckte es ihr durch den Kopf. Die politische Senkrechtstarterin hat sich ein maximal ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie will die AfD in die Bundesregierung führen. Heute, in ihrer Rolle als Oppositionsführerin, könne sie nicht mehr tun, als eine «Warnerin» zu sein. Es tue weh, zuschauen zu müssen, wie das Scholz-Kabinett Deutschland an die Wand fahre. Darum wolle sie Regierungsverantwortung übernehmen.

Da ist sie wieder: Die unverblümte Alice Elisabeth Weidel, die am liebsten die Direttissima wählt und sich selbst als «Überzeugungstäterin » bezeichnet. «Wenn ich von der Notwendigkeit einer Sache überzeugt bin, bin ich nicht mehr vom Fleck zu bringen», sagt sie dazu, und es klingt wie ein fernes Echo von Martin Luther («Hier stehe ich, ich kann nicht anders»). Bis es vielleicht eines Tages so weit ist, bis Alice Weidel die deutsche Politik nicht mehr nur gnadenlos seziert, sondern sie auch mitgestaltet, ist sie weiterhin bereit, «jeden Tag durch das Sandstrahlgebläse zu rennen», wie sie das nun schon seit Jahren tut – ohne dass ihre tadellose Haltung dabei einen sichtbaren Schaden genommen hätte.