Iris Wolff: Lichtungen. Klett-Cotta. 256 S., Fr. 33.90

Zwei Menschen kennen sich seit der Kindheit, gehen auseinander und finden wieder zusammen. Davon handelt, kurzgefasst, Iris Wolffs neuer Roman «Lichtungen». Aber es ist, wie immer bei Iris Wolff, eine Geschichte, die, atmosphärisch dicht und sprachlich fein ziseliert, aus vielen Bruchstücken, Erinnerungsskizzen, emotionalen Momentaufnahmen zusammengesetzt ist. Und die ein Leben widerspiegelt, das massgeblich von aussen, von der gewalttätigen Herrschaftsgeschichte Osteuropas mitbestimmt wurde.

 

Rückwärts erzählt

Es geht um die deutsche Volksgruppe im Rumänien des Diktators Ceausescu. Erzählt wird am Beispiel einer schwierigen Liebesbeziehung von der Zerrissenheit der Existenz unter einer autoritären, gängelnden und peinigenden Staatsmacht. Kato und Lev, die beiden Protagonisten des Romans, sind in der Maramuresch, im waldreichen Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine, aufgewachsen.

Die Welt war ein Wartesaal in Rumänien damals. Die Grenzen waren versperrt, die Repression hart, die Aussichten auf ein freies, selbstbestimmtes Leben düster. Man hielt vor allem in der eigenen Volksgruppe zusammen.

Die beiden Jugendlichen kennen sich aus derselben Schulklasse. Kato hat Lev monatelang mit dem Unterrichtsstoff versorgt, als er nach einer traumatischen Erfahrung gelähmt im Bett liegen musste. Später kehrte sich das Verhältnis um, als die vierzehnjährige Kato ihrem verwitweten Vater zu Hause beistehen muss und Lev ihr den Schulstoff nach Hause bringt. Bis plötzlich, nach langem Warten, 1989 die grosse Öffnung einsetzt. Jetzt vermag die erwachsen gewordene Kato nichts mehr zu halten.

Das Leben wurde von der gewalttätigen Herrschaftsgeschichte Osteuropas mitbestimmt.

Mit einem eher zufällig dahergeradelten Deutschen sucht sie per Velo das Weite, fährt weg in den Westen. Als Strassenmalerin zieht sie jahrelang durch halb Europa, während Lev in der Heimat zurückbleibt, den Militärdienst ableistet und sich in den Wäldern als Holzfäller verdingt.

Das alles erfahren wir erst nach und nach, denn Iris Wolff erzählt die Geschichte von der Gegenwart aus rückwärts, Kapitel für Kapitel bis in die Anfänge vor mehr als dreissig Jahren. Der Roman setzt ein, als Kato und Lev sich nach Jahren in Zürich wiedersehen und zu einer gemeinsamen Reise durch Südfrankreich bis nach Italien aufbrechen. «Wann kommst du?», hatte Kato auf einer Postkarte nach Rumänien geschrieben, und diesmal zögerte Lev nicht.

 

Faszinierend durchdacht

Souverän legt Iris Wolff die Tiefenschichten einer fragilen Beziehung frei, lässt die Geschichte Schritt für Schritt zurücklaufend abrollen. Die vertauschte Chronologie erhöht die Spannung, zwingt indes zur Konzentration. Zumal die Erzählerin behutsam einem vielköpfigen Figurenensemble aus Verwandten und Dorfbewohnern Raum zur Entfaltung ihrer je eigenen Erfahrungen und Eigentümlichkeiten gibt.

Es ist faszinierend, wie durchdacht Iris Wolff den Bewusstseinsvorgängen im Erleben ihrer Protagonisten sprachlich nachzuspüren vermag: «In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich bemühte, es tauchte nie wieder auf. Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nie verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen. Alles sonst, dachte Lev, bleibt nur durch andere gegenwärtig.»

Souverän legt Iris Wolff die Tiefenschichten einer fragilen Beziehung frei.«Lichtungen» ist der fünfte Roman der 1977 als Tochter eines Pfarrers in Hermannstadt geborenen Erzählerin, die mit acht Jahren nach Deutschland kam und heute in Freiburg im Breisgau lebt. Auch in ihren vielbeachteten Büchern zuvor hat sie sich in der ihr eigenen Kunst der poetischen Verdichtung ihrer Herkunftswelt in Siebenbürgen und auf dem Banat zugewandt. Deren wechselvolle Geschichte grundiert hier nicht nur das Geschehen, sondern verweist eindrucksvoll auf ihr Fortwirken im Lebensgefühl der Menschen, zu Hause wie in der Ferne.