Todtnauberg

Was für ein Blick! Die Täler liegen dicht eingepackt unter einer Watteschicht von Bodennebel. Auf den Hügeln leuchtet das Schwarzwälder Herbstlicht, von dem es heisst, es verhelfe zu klarerem Denken. Ein paar Meter über mir steht eine unscheinbare, mit Holztäfelchen beschindelte Hütte. Die grünen und blauen Fensterläden und Türen zeigen eine gewisse Exzentrik des ursprünglichen Besitzers an. Hier brütete, wanderte und schrieb vor bald hundert Jahren der deutsche Philosoph Martin Heidegger, in der Wildnis der Berge Anschluss suchend an die verlorene Götterwelt der alten Griechen. Er landete zwischendurch, auch grosse Intelligenz schützt vor Fehlurteilen nicht, im Feldlager von Hitlers Nationalsozialisten, seilte sich aber bald wieder ab, um nach dem Krieg fast wieder rehabilitiert als «heimlicher König der Philosophie» ganze Generationen von Denkern und Dichtern zu beeinflussen.

An Heidegger, dem «unbehausten» Katholiken, der über den von Nietzsche ausgerufenen Tod Gottes nicht hinwegkam, fasziniert mich vor allem dessen persönliche Geschichte in diesem 20. Jahrhundert des Wahnsinns, der Weltkriege, der ideologischen Rasereien, die ganze Völker, nicht zuletzt das deutsche, in den Abgrund rissen. Weniger als Schlüssel zum Verständnis des rätselhaften Höllenritts denn als Mahnung, dass es unter bestimmten Umständen jeden erwischen kann, ist für mich Heidegger, der auch als Naturbursche, Kritiker der Moderne, Grünenpionier und sperrig philosophierender Skifahrer Furore machte, eine stete Irritation geblieben, eine Warnung, dass ausgerechnet wir Heutigen, die wir uns so wissend und moralisch immun wähnen, gerade deshalb besonders gefährdet sind, die Fehler unserer Vorfahren zu wiederholen.

Ich lese die hervorragende neue Heidegger-Biografie des deutschen Journalisten Lorenz Jäger. Er zeigt den Denker zwischen Logos und Eros; Heidegger war auch ein grosser Frauenversteher und Verführer, seine Liebesbriefe sind Kleinodien der kunstvollen Schmeichelei. Bei Ernst Nolte, der noch bei Heidegger studierte, erfahre ich, dass man die Hinwendung des Denkers an die Sache der Nationalsozialisten nicht verstehen kann ohne die bürgerkriegsgepeitschten Zeitumstände im damaligen Deutschland, als Hitler für viele Konservative, enttäuscht von der schwachen Republik und einem «Kapitalismus», der vor allem Massenarmut produzierte, gegenüber den von Moskau gesteuerten aufstrebenden Kommunisten das geringere, zudem Schutz vor der roten Gefahr versprechende Übel repräsentierte. Manchmal gibt es in der Politik nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Dankbar, Schweizer zu sein und in erfreulicheren Zeiten zu leben, lege ich die Bücher beiseite. Seltsamerweise muss ich an Egon Zehnder denken. Dieser Tage findet seine wegen Corona verschobene Abdankung in der Zürcher Fraumünsterkirche statt. Zehnder starb im biblischen Alter von über neunzig Jahren an den Folgen des Virus, überraschend herausgerissen aus einem bis zuletzt bei bester Gesundheit verbrachten Leben.

Wenn Heidegger für eine urdeutsche Neigung zum Romantischen, Grüblerisch-Schmachtenden, Tief- bis Pseudotiefsinnigen stand, für die auch melancholisch verschattete, elitär-einsiedlerische Waldbewohnernatur etlicher deutscher Denker mit allen Gefahren der Verirrung und Verblendung, dann verkörperte Egon Zehnder für mich einen typischen schweizerischen, genau gegenteiligen Zug zum Praktischen, Pragmatischen, Unternehmerischen, zu einem angelsächsisch leichtfüssigen, durchaus welterobernden Optimismus, der eben nicht die Vereinzelung suchte, die Absonderung im Wald, sondern mit jeder Faser lächelnde Zugänglichkeit und freundliche Weltzugewandtheit verströmte.

Das Schweizer Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit lässt sich mit Statistiken und politischen Leitsätzen veranschaulichen und erklären – demokratische Staatsform, niedrige Steuern, stabile Eigentumsordnung, Gewerbefleiss, sorgfältiges Haushalten, mehr Freiheit, weniger Staat und so weiter –, aber in der konkreten Praxis waren es Pioniere wie Zehnder, die nicht wie Heidegger in der Einsamkeit der Berge dem Wesen des «Seins» nachspürten, sondern aus dem Nichts weltumspannende Unternehmen schufen, anfänglich alleine, dann mit Hunderten, schliesslich Tausenden von Mitarbeitern in zahlreichen Ländern. Zehnder war der Grandseigneur und grosse Veredler der internationalen Unternehmens- und Personalberatung, ein zunächst recht wildes, aus den USA stammendes Geschäft, das der Jurist und Harvard-Absolvent, typisch schweizerisch, in die obersten Stratosphären der Qualität hievte, einen eigenen Orden von Mitarbeitern und Partnern schuf, die den Stil des Gründers in und auf sich in die Welt hinaustrugen.

Ich hatte die Freude und Ehre, Egon Zehnder persönlich zu kennen, einen äusserst humorvollen und liebenswürdigen Menschen, der, zeitlebens Freisinniger, für die besten bürgerlichen Traditionen unserer Schweiz einstand. Heidegger, der deutsche Grossdenker des letzten Jahrhunderts, kultivierte den Dünkel gegenüber den USA und ihrer «trostlosen Betriebsamkeit», der «bodenlosen Organisation der Normalmenschen». Dieser «Weltverdüsterung» hielt er das «geistig-geschichtliche» angeblich hellere und höhere Dasein seines altgriechisch geadelten Deutschlands entgegen. Ich vermute, Egon Zehnder hätte, wenn wir über die Irrungen der Deutschen und ihrer Denker im 20. Jahrhundert gesprochen hätten, geschmunzelt. Begeistert umarmte Zehnder die USA, ohne sich dabei zu verlieren. An ihm liess sich die lässige, fast beiläufige Seelen- und Wesensverwandtschaft der Schweiz mit der angelsächsischen, britisch-amerikanischen Welt ablesen, Pragmatismus statt Ideologie, Common Sense statt Tiefsinn, Freiheit und Markt statt Sozialismus, Zwang und Staat.

Egon Zehnder hatte die Gabe aller grossen Führungspersönlichkeiten: Nach einem Treffen mit ihm hatte man mehr Energie als vorher. Einmal fragte ich ihn, was er während seiner grössten unternehmerischen Krisen gemacht habe. Seine Antwort: «Mehr gearbeitet.» Das «Sein», wie es der Philosoph grübelnd erforschte, liess sich an Egon Zehnder erfahren: als ansteckende Lebenskraft des Schweizer Unternehmers, für den, anders als für Heidegger, Weltverbundenheit und Heimatsinn keine Gegensätze waren, sondern wechselseitige Bedingungen des Erfolgs. R. K.