Natürlich ist an dem Fall so gut wie alles absurd: eine 97 Jahre alte Greisin wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen vor beinahe achtzig Jahren vor Gericht zu stellen und nach Jugendstrafrecht zu zwei Jahren auf Bewährung zu verurteilen.

Mord verjährt nicht, auch die Beihilfe dazu nicht, gleich wie alt der Delinquent ist. Den damals 86 Jahre alten Erich Mielke, mehr als dreissig Jahre lang Minister für Staatssicherheit der DDR, hat man 1993 wegen Mordes an zwei Polizisten im Jahr 1931 zu sechs Jahren verurteilt. Immerhin.

Irmgard Furchner hat als Sekretärin von Paul Werner Hoppe, Kommandant des KZs Stutthof, Deportationslisten geführt und Exekutionsbefehle abgetippt. Sie wusste von den bürokratisch exekutierten Tötungen, von heimtückischen Genickschussanlagen, von «Probevergasungen» und Todesmärschen.

Sie sah die Bestialitäten der Nazis mit eigenen Augen. Und blieb freiwillig, bis zum Ende 1945. Entschuldigt sie ihr junges Alter (sie war damals 18, 19 Jahre alt)? Sie hätte kündigen und sich nach einem anderen Job umsehen können, es wäre ihr nichts passiert.

Natürlich ist das Urteil eher symbolischer Natur. Es hat viel Geld gekostet und Ressourcen gebunden, die anderswo dringend gebraucht worden wären. Aber ist es deshalb auch sinnlos?

Noch immer gibt es KZ-Überlebende. Sie haben Kinder, Kindeskinder. Sie alle leben mit der Erinnerung an das monströseste Verbrechen der Menschheit und haben alles Recht der Welt auf ein wenig Genugtuung.

Auf ein – wenn auch viel zu spätes – Zeichen der deutschen Justiz, dass ihnen grausamstes Unrecht zugefügt wurde. Auch wenn die Aufarbeitung des Holocaust für die Justiz kein Ruhmesblatt ist: Auch Furchner hat zum Funktionieren der Vernichtungsmaschinerie der Nazis beigetragen. Angesichts dessen, was ihr nachgewiesen wurde, trifft das Urteil nicht die Falsche.

Die 3 Top-Kommentare zu "97 Jahre alte KZ-Sekretärin zu zwei Jahren Bewährung verurteilt: Natürlich ist an dem Fall so gut wie alles absurd"
  • thomas.kluczny

    Das deutsche Strafrecht basiert auf Umerziehung und auf Ausgleich , im Gegensatz zum amerikanischem Strafrecht , welches auf Rache basiert . In so einem speziellem Fall kann ich weder einen Ausgleich , noch einen Erziehungseffekt erkennen . Wie auch nach 77 Jahren ?

  • collie4711

    Die NS-Juristen hatten mehr Glück als diese Sekretärin. Tatsächlich hat sich die deutsche Justiz in der Nachkriegszeit – mit Ausnahme des Nürnberger Juristenprozesses, der unter alliierter Federführung stattfand –der eigenen Strafverfolgung nahezu völlig entzogen. Die Kleinen hängt man - die Großen ließ man laufen. Die Akte Rosenburg. https://www.bmj.de/DE/Ministerium/GeschichteBMJ/Rosenburg/Rosenburg_node.html

  • muggal

    Abgesehen davon, was man davon hält, würde mich die Beantwortung EINER Frage interessieren: Wie viele Kinder, Kindeskinder, Kindeskindeskinder, Kindeskindeskinderkinder, Kindeskindeskindeskindeskinder-Generationen brauchen noch "Genugtuung"? Bis es keine Bio-Deutschen mehr gibt? Ist dann die letzte Schuld getilgt? ICH habe NIEMANDEN etwas getan, meine Eltern nicht, meine Großeltern nicht. Und deshalb sehe ich in diesem Zusammenhang eine Art "Erbschuld" als nicht angemessen an.