Dieser Artikel erschien bereits am 28.01.2021. Aus aktuellem Anlass publizieren wir ihn erneut.

Das 1775 als Irrenhaus gegründete Gefängnis Matrosskaja Tischina ist eine der ältesten Haftanstalten Moskaus. Dennoch geht man auch hier mit der Zeit: Alexei Nawalny, der derzeit prominenteste Insasse, kontaktierte kurz nach seiner Einlieferung seine Anhänger über Instagram. Nur für den «Fall der Fälle» baute er unliebsamen Überraschungen vor – etwa einem plötzlichen, unerklärlichen Exitus.

«Es ist nicht meine Absicht, mich an einem Fenstergitter zu erhängen oder mir mit einem angespitzten Löffel die Pulsadern oder die Kehle aufzuschneiden», beruhigte er seine Follower. Auch andere beliebte Unfallarten vergass er nicht zu erwähnen: «Ich gehe sehr vorsichtig die Treppe hoch und runter. Mein Blutdruck wird jeden Tag gemessen, er ist wie der eines Kosmonauten, und ein plötzlicher Herzinfarkt ist ausgeschlossen.»

Die Vorsicht des prominentesten russischen Regierungskritikers ist berechtigt. Schliesslich war er im vergangenen August auf dem Flug aus dem sibirischen Tomsk nach Moskau mit akuten Vergiftungserscheinungen zusammengebrochen und eilends nach Berlin ausgeflogen worden. Dort entdeckten deutsche Experten Spuren des geheimnisvollen Giftes Nowitschok, das schon vorher dem Ex-Agenten Sergei Skripal und dessen Tochter in Grossbritannien verabreicht worden war.

 

Machtmissbrauch und Bereicherung

 

Auch wenn Wladimir Putin Nawalnys Namen prinzipiell nicht in den Mund nimmt, ist ihm der 44-Jährige seit Jahren ein Dorn im Auge. Aggressiv, mutig, aber auch spöttisch und unterhaltsam prangert Nawalny Korruption, Machtmissbrauch und Bereicherung des «Systems Putin» an. Da zu diesem System Kreml-Statthalter im ganzen Land gehören, geraten auch Provinzgouverneure ins Visier der Korruptionsjäger. Dies führte zu Spekulationen, dass der Anschlag auf Nawalny «lokal» geplant und durchgeführt wurde.

Aber wer ist dieser Alexei Nawalny wirklich? Gemessen an seiner Popularität liegt vieles im Dunkeln. Das beginnt mit seinem Elternhaus, über das man nur erfährt, dass Vater Anatolij Absolvent einer Militärakademie war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion besass der mutmassliche Offizier zusammen mit der Ehefrau und den beiden Söhnen Alexei und Oleg eine eigene Firma für Korbwaren.

Auch die Wahl seiner Alma Mater war eher ungewöhnlich. Statt an der Moskauer Lomonossov-Universität studierte Alexei Jura an der Hochschule für Völkerfreundschaft. Sie war eher Studenten aus sozialistischen Bruderländern in Asien, Afrika und Lateinamerika vorbehalten.

Es folgten ein Studium des Aktienhandels und Börsenwesens sowie ein viermonatiges Stipendium an der amerikanischen Elite-Universität Yale. Der junge Anwalt Nawalny gründete erfolglos mehrere Firmen und beteiligte sich an diversen politischen Parteien, wobei er vor allem durch rechtsnationalistische Parolen auffiel, von denen er sich heute distanziert. Unklar ist, wovon er lebt, seit er seine Anwaltslizenz verlor. Seine wichtigste Einnahmequelle sind offensichtlich Zuwendungen des in London lebenden Unternehmers Boris Simin.

Wo Nawalny politisch steht, ist ebenfalls unklar. In seinem Programm für die letzten Präsidentschaftswahlen ist vage davon die Rede, dass die Russen ein normales Leben führen sollten. Wegen dieses Mangels an politischen Standpunkten nannte ihn der Dichter Lew Rubinstein «talentiert, aktiv und sehr gefährlich». Und die Menschenrechtsaktivistin Valerija Novodvorskaja beklagte «die Demagogie, die Leere» Nawalnys. Er sei «eine komplette Hülle», aus der man versuche, eine politische Figur zu machen. Das ist gelungen: Der telegene, wortgewandte und schlagfertige Nawalny ist das Gegenstück des durchschnittlichen russischen Politikers.

Erst seit Anfang 2017 nahm sein Kampf gegen das System Putin an Fahrt auf. Er und sein Team arbeiten hochprofessionell. Pedantisch sammeln sie Informationen und Beweise, die sie in ansprechend aufgemachten Videos auf Nawalnys Youtube-Kanal schalten. Damit schaffte es Nawalny, in den Worten des Bürgerrechtlers Fjodor Krascheninnikow, zu Putins «Kopfschmerz Nummer eins» zu werden – nicht bedrohlich für den Präsidenten und das Regime, aber ein lästiger, ständig stechender Stachel.

Seit Jahren wird Nawalny deshalb mit Prozessen und Klagen überhäuft. Der Giftanschlag freilich war von einem anderen Kaliber, weshalb sich viele fragen, warum er sich freiwillig in die Höhle des Löwen zurückkehrte. Denn obwohl der lange, tödliche Arm des russischen Geheimdienstes auch über die Landesgrenzen reicht, lassen sich unliebsame Ruhestörer daheim doch leichter beseitigen.

Nawalny selbst begründete seine Rückkehr mit den – für notorisch heimwehkranke Russen typischen – Worten: «Weil ich keine andere Heimat habe.» Doch es steckt mehr dahinter: Es geht um seine Glaubwürdigkeit. «Selbst Menschen, die ihm bisher eher skeptisch gegenüberstanden, werden nun sagen: ‹Hallo, der setzt ja Kopf und Kragen aufs Spiel für seine Mission›», meinte ein Moskauer Journalist, der anonym bleiben wollte. «In den Augen der meisten Russen ist das Ausland suspekt, und wenn Nawalny den Kreml aus dem Ausland kritisieren würde, schadete das seinem Ansehen.» Oder wie es Krascheninnikow formulierte: «Hätte er sich entschieden, nicht zurückzukommen, wäre das ein Sieg für Putin gewesen.»

Man muss nicht so weit gehen wie der Politologe Alexander Baunow von der Moskauer Carnegie-Stiftung, der Nawalny zu einem vom fast sicheren Tod «wiederauferstandenen» Erlöser stilisiert. Aber bewundern muss man die an Chuzpe gemahnende Courage, mit der Nawalny nach seiner Verhaftung nicht schwieg, sondern attackierte: Er rief zu landesweiten Protesten auf und veröffentlichte ein brisantes Video.

 

Putins «Versailles»

 

Darin rekapitulierte er noch einmal den Aufstieg Putins und seiner Bande enger Freunde vom kleinen KGB-Mann in Dresden zum vermutlich schwerreichen Kremlchef. Obendrauf sattelte das Team Nawalny neue Bilder und Informationen über Putins «Versailles», eine 1,4 Milliarden Dollar teure Palastanlage am Schwarzen Meer, über die Nawalny schon vor sechs Jahren berichtet hatte.

Mehr als 65 Millionen Menschen sahen den zweistündigen Film «Ein Palast für Putin – Geschichte der grössten Bestechung», und viele von ihnen werden sich – Lächerlichkeit tötet – vor Lachen ausgeschüttet haben über Putins teuren, aber schlechten Geschmack, über den goldenen WC-Papier-Halter und die «Aquadiskothek», vor allem aber über die Tatsache, dass auch ein über unbeschränkte Mittel verfügender Bauherr es in Russland nicht schafft, ein Gebäude fristgerecht fertigzustellen. Immerhin wird schon seit fünfzehn Jahren an dem Monsterprojekt herumgewerkelt. Zuletzt mussten offenbar Wände wieder abgerissen werden, weil sie schimmelten und der Mörtel bröckelte.

Wären die 65 Millionen Klicks 65 Millionen überzeugte Anhänger Nawalnys, dann wäre dieser nicht nur ein Kopfschmerz, sondern eine Gefahr für Putin und seine Kamarilla. Dass dies nicht der Fall ist, zeigten die Demonstrationen für seine Freilassung am vergangenen Wochenende in zahlreichen russischen Städten. Insgesamt werden es ein paar Zehntausend Menschen gewesen sein, die in klirrender Kälte auf die Strasse gingen. Eine Bedrohung für den Staat sieht anders aus.

Sicher: Der Bekanntheitsgrad des Regierungskritikers in der Bevölkerung hat sich deutlich erhöht – jedoch weniger dank eigener Anstrengungen, sondern wegen der Attacken der Behörden auf ihn. Aber mit Ausnahme eines Teils des liberalen, städtischen Bürgertums und junger Menschen haben Nawalny und seine Videos für die meisten Russen bestenfalls Unterhaltungswert.

«Ein Grossteil der Bevölkerung sieht in Nawalny keinen Kämpfer gegen die korrupten Behörden, sondern einen Kämpfer für einen eigenen Platz an der Macht», urteilt der politische Analytiker Andrei Mowtschan vom liberalen Moskauer Sender Echo Moskwy. «Es ist kein Kampf Gut gegen Böse, sondern ein Wettbewerb um Chancen. Dieser Kampf betrifft sie nicht direkt, er ist ein Spektakel wie eine Talkshow.»

Dazu kommt die speziell russische Einstellung zu Nawalnys Hauptthema, der Korruption. Dieses Verhältnis zu Bestechung und Vorteilsnahme ist zwiespältig. Im Alltag ist jeder Russe ständig mit der Korruption konfrontiert: Ein paar Rubel für den Stempel auf einer Behörde, ein Geschenk für den Lehrer der Kinder, eine Extrazahlung für den behandelnden Arzt – es gibt so gut wie keinen Lebensbereich, in dem nicht die Hand aufgehalten und gefüllt wird.

Die Menschen stöhnen unter diesem Obolus, der ihnen ständig abverlangt wird. Andererseits beschleunigt eine richtig eingesetzte wsjatka die Dinge ungemein, und viele Berufsgruppen – darunter Beamte oder Lehrer – kämen ohne Bestechungsgelder nicht über die Runden. Da das System alles durchdringt, wundert man sich nicht darüber, dass auch in hohen und höchsten Staatsrängen Bestechungsgelder erwartet werden – je höher der Empfänger in der Hierarchie sitzt, desto mehr. «Das Streben nach Macht ist der Wunsch, die Korruptionsmöglichkeiten zu vergrössern», urteilt Mowtschan. «Die Haltung zur Korruption kann eher als Neid denn als Verurteilung definiert werden.»

Wie also mit Nawalny umgehen? Diese Frage stellt man sich im Kreml, und man sollte sie sich auch im Westen stellen. In Moskau geben derzeit die Hardliner den Ton an, die die «weissrussische Methode» vorziehen: draufhauen und keine Schwäche zeigen. Doch damit erhöhen sie nur den Bekanntheitsgrad des Regimekritikers.

 

Loyalitätsfragen

 

Aber auch die Unterstützung des Westens für Nawalny kann unerwartete Konsequenzen haben. Zum einen ist er kein liberaler Demokrat, sondern ein russischer Nationalist, der in seinem politischen Programm die Führerschaft Russlands über Europa und Asien fordert. Zum anderen wird sich die Mehrheit der russischen Durchschnittsbürger von ihm abwenden, wenn sie den Eindruck gewinnt, dass er ein Instrument des Auslands sein könnte.

Denn für sie gilt, was Alexei Lewinson vom Moskauer Meinungsforschungsinstitut Levada konstatiert: «Loyalität zu Putin ist Loyalität zu Russlands gesellschaftlicher Realität. Sich von Putin zu distanzieren, bedeutet, sich von der Realität zu distanzieren und einen furchterregenden Schritt ins Unbekannte zu tun.»

Die 3 Top-Kommentare zu "Die Nawalny-Story: Seine Ansichten lagen ebenso im Dunkeln wie seine Geldquellen. Alexei Nawalny forderte Transparenz. Selber war er ziemlich undurchschaubar"
  • Ex Tessiner Mittelständler

    Die Geldquelle von Nawalny? Ganz klar, CIA O.

  • divica

    Nawalny war einige Monate in den USA, er hat dort am Yale World Fellows Programm teilgenommen. Für das Stipendienprogramm für aufstrebende, globale Führungskräfte an der renommierten Yale Universität wird man ausgewählt. Klar hätte man in den USA einen solch „westlich“ beeinflussten Mann gerne an der Spitze Russlands gesehen.

  • traugi70

    Weil es nichts mit dem Artikel zu tun hat. Man muss ja nicht den Artikelschreiber versuchen persönlich zu diskreditieren, wenn man mit dem Inhalt nicht einverstanden ist.