Diese Rede hielt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 16. Januar 2024 am World Economic Forum in Davos. Wir dokumentieren sie übersetzt und im Wortlaut.

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Klaus,

Ihr jährlicher «Global Risk Report» ist eine erstaunliche und ernüchternde Lektüre. Für die globale Geschäftswelt ist die grösste Sorge für die nächsten zwei Jahre nicht der Konflikt oder das Klima. Es sind Desinformation und Fehlinformation, dicht gefolgt von der Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaften.

Diese Risiken sind ernst zu nehmen, denn sie schränken unsere Fähigkeit ein, die grossen globalen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen wir konfrontiert sind: Veränderungen unseres Klimas – und unseres geopolitischen Klimas; Verschiebungen in unserer Demografie und in unserer Technologie; sich zuspitzende regionale Konflikte und verschärfter geopolitischer Wettbewerb und deren Auswirkungen auf die Lieferketten. Die ernüchternde Realität ist, dass wir wieder intensiver zwischen den Ländern konkurrieren als in den letzten Jahrzehnten. Dies macht das Thema des diesjährigen Treffens in Davos noch relevanter.

«Vertrauen wieder aufbauen» – dies ist nicht die Zeit für Konflikte oder Polarisierung. Es ist an der Zeit, Vertrauen zu schaffen. Es ist an der Zeit, die globale Zusammenarbeit mehr als je zuvor voranzutreiben. Dies erfordert sofortige und strukturelle Antworten, die der Grösse der globalen Herausforderungen entsprechen. Ich glaube, dass dies möglich ist. Und ich glaube, dass Europa die Führung bei der Gestaltung dieser globalen Antwort übernehmen kann und muss.

Der Ausgangspunkt dafür ist eine genauere Betrachtung des globalen Risikoberichts, um einen Weg nach vorn zu finden. Viele der Lösungen liegen nicht nur in der Zusammenarbeit der Länder, sondern vor allem in der Zusammenarbeit von Unternehmen und Regierungen – von Unternehmen und Demokratien. Es war noch nie so wichtig wie heute, dass der öffentliche und der private Sektor ein neues Bindegewebe schaffen. Denn keine dieser Herausforderungen macht vor Grenzen halt. Sie alle erfordern Zusammenarbeit, um Risiken zu bewältigen und einen Weg nach vorn zu finden. Und genau darüber möchte ich heute sprechen.

Während die Regierungen viele der Hebel zur Bewältigung der grossen Herausforderungen unserer Zeit in der Hand haben, verfügen die Unternehmen über die Innovation, die Technologie und die Talente, um die Lösungen zu liefern, die wir brauchen, um Bedrohungen wie den Klimawandel oder Desinformation im industriellen Massstab zu bekämpfen. Europa ist in einer einzigartigen Position, um zu zeigen, wie dies funktionieren kann.

Denn unsere Demokratien und unsere Unternehmen haben übereinstimmende Interessen: Wohlstand, Reichtum und Sicherheit für die Menschen zu schaffen, ein stabiles Umfeld zu schaffen, das Innovationen und Investitionen freisetzt, und Chancengleichheit und Freiheit zu schaffen. Dies ist zu Beginn des Jahres 2024 – dem grössten Wahljahr der Geschichte – wichtiger denn je.

Die Hälfte der Weltbevölkerung wird davon betroffen sein, darunter über 450 Millionen Menschen in der Europäischen Union. Eine Union von 27 Demokratien, in der wir alle das Recht haben, unsere Meinung zu sagen, wir selbst zu sein, auch wenn wir uns von der Mehrheit unterscheiden. In einer Demokratie sind es die Menschen, die mit ihren Entscheidungen und ihrem Verhalten die Gewinner und Verlierer im Wirtschaftsleben bestimmen. Unternehmen sind frei, sich dem Wettbewerb zu stellen. Veränderer sind frei, innovativ zu sein. Leistung bestimmt den wirtschaftlichen Erfolg. Und unsere Regeln sollen dies gewährleisten: zum Schutz des geistigen Eigentums, der Sicherheit von Industriedaten oder der Ersparnisse von Menschen und Unternehmen. Und Europa setzt sich für einen globalen Handel auf der Grundlage fairer und offener Märkte ein.

Natürlich ist unsere Freiheit, wie in allen Demokratien, mit Risiken verbunden. Es wird immer diejenigen geben, die versuchen, unsere Offenheit auszunutzen, sowohl von innen als auch von aussen. Es wird immer Versuche geben, uns aus der Bahn zu werfen, zum Beispiel mit Desinformation und Fehlinformation. Und nirgendwo hat es mehr davon gegeben als in der Frage der Ukraine.

Lassen Sie mich Ihnen also einige echte Informationen geben. Russland scheitert an strategischen Zielen. Es ist in erster Linie ein militärisches Versagen. Wir haben nicht vergessen, dass beim Einmarsch Russlands in die Ukraine viele befürchteten, dass Kiew innerhalb weniger Tage und der Rest des Landes innerhalb von Wochen fallen würde. Dies ist nicht eingetreten. Stattdessen hat Russland etwa die Hälfte seiner militärischen Fähigkeiten verloren. Die Ukraine hat Russland aus der Hälfte der Gebiete vertrieben, die es erobert hatte.

Die Ukraine hat die russische Schwarzmeerflotte zurückgedrängt und einen Seekorridor für die Lieferung von Getreide in die Welt wieder geöffnet. Und die Ukraine hat ihre Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt. Russlands Scheitern ist auch wirtschaftlicher Natur. Die Sanktionen haben seine Wirtschaft von moderner Technologie und Innovation abgekoppelt. Russland ist nun von China abhängig. Und schliesslich ist Russlands Versagen auch diplomatischer Natur. Finnland ist der Nato beigetreten. Schweden wird bald folgen. Und die Ukraine ist auf ihrem Weg in die Europäische Union näher denn je.

All dies zeigt uns, dass die Ukraine in diesem Krieg siegen kann. Aber wir müssen ihren Widerstand weiter stärken. Die Ukrainer brauchen eine verlässliche Finanzierung für das Jahr 2024 und darüber hinaus. Sie brauchen eine kontinuierliche Versorgung mit Waffen, um die Ukraine zu verteidigen und ihr rechtmässiges Territorium zurückzuerobern. Sie brauchen Fähigkeiten, um künftige Angriffe Russlands abzuwehren. Und sie brauchen auch Hoffnung.

Sie müssen wissen, dass sie sich durch ihren Kampf eine bessere Zukunft für ihre Kinder verdienen werden. Und die bessere Zukunft der Ukraine heisst Europa. Mit grosser Freude haben wir im vergangenen Monat beschlossen, die Beitrittsverhandlungen für die EU-Mitgliedschaft der Ukraine aufzunehmen. Dies wird eine historische Leistung der Ukraine sein. Und es wird Europa sein, das auf den Ruf der Geschichte antwortet.

Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass der Einmarsch Russlands auch Auswirkungen auf die Lebenshaltungskosten und die Kosten für Geschäfte hier in Europa hat. Ich weiss, wie sehr das einige Ihrer Unternehmen getroffen hat. Aber ich habe eingangs gesagt, dass die Risiken, mit denen wir konfrontiert sind, eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern und der Wirtschaft erfordern und dass unsere gemeinsame Fähigkeit, darauf zu reagieren, viel stärker ist, als wir vielleicht glauben. Und nirgendwo wird dies besser deutlich als in den Bereichen Energie und Nachhaltigkeit.

Vor zwei Jahren, vor der russischen Aggression gegen die Ukraine, wurde jede fünfte Energieeinheit, die im Jahr 2021 in der Europäischen Union verbraucht wurde, aus Russland importiert. Diese hohe Abhängigkeit von Russland wurde weithin als Risiko erkannt, insbesondere nach der Besetzung der Krim durch Russland. Und dann kam der Einmarsch Russlands in die Ukraine. Russland hatte die Verwundbarkeit Europas bereits erhöht, indem es die Gasspeicher absichtlich nicht auf das übliche Mass füllte. Und angesichts des ukrainischen Heldentums und der europäischen Solidarität beschloss Putin, dass es an der Zeit sei, Europa direkt zu bedrohen, indem er die Gaslieferungen kappte und Energie als seine Waffe einsetzte.

Wir alle haben die Folgen von Putins Entscheidungen zu spüren bekommen. Wir standen vor schwierigen Entscheidungen und Ungewissheiten, vor allem während der Wintermonate. Aber wir haben die richtigen Entscheidungen getroffen. Jetzt, nur zwei Jahre später, hat Europa sein Energie-Schicksal wieder selbst in die Hand genommen. Im vergangenen Jahr kam jede zwanzigste in der Europäischen Union verbrauchte Energieeinheit aus Russland. Sicherlich hat die Krise die Dynamik der europäischen Wirtschaft gebremst, aber die Befürchtungen eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs erwiesen sich als unbegründet. Und nun sind die Energiepreise gesunken und blieben sogar während des jüngsten Kälteeinbruchs Anfang Januar niedrig. Die Gasspeicher sind nach wie vor gut gefüllt. Europa hat echte Fortschritte bei der Verbesserung der Widerstandsfähigkeit seines Energiesystems gemacht.

Wie war das möglich? Weil wir in Zusammenarbeit gehandelt haben. Weil wir gut funktionierende und offene Märkte und gute Freunde in der ganzen Welt hatten, die einsprangen und alternative Lieferungen vorantrieben. Weil wir einen Binnenmarkt hatten, der es uns ermöglichte, die Energieströme dorthin umzuleiten, wo sie gebraucht wurden. Vor allem aber, weil wir uns für eine saubere Energiewende eingesetzt und in die sauberen, effizienten und erneuerbaren Technologien der Zukunft investiert haben.

Die europäischen Industrien und Unternehmen haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. Die neuesten Zahlen der Internationalen Energieagentur zeigen, dass das Wachstum der Kapazitäten für erneuerbare Energien in der Europäischen Union im Jahr 2023 einen neuen Rekord erreicht. Und die Europäische Union hat die Effizienz ihrer Energienutzung – die beste Energie ist die, die nicht verbraucht wird – um fast 5 Prozent verbessert. Auf diese Weise haben wir Putins Herausforderung in eine grosse neue Chance verwandelt. Im vergangenen Jahr hat die Europäische Union zum ersten Mal mehr Strom aus Wind und Sonne als aus Gas erzeugt. Und in diesem Jahr wird die Europäische Union zum ersten Mal insgesamt mehr Energie aus Wind und Photovoltaik beziehen als aus Russland. Das ist eine gute Nachricht.

Doch bei allem Grund zum Optimismus sollten wir eine wichtige Lehre aus der Krise nicht vergessen. Sich zu sehr auf ein Unternehmen, ein Land oder einen Handelsweg zu verlassen, birgt Risiken. Aus diesem Grund legt der Europäische Grüne Deal nicht nur grossen Wert auf die Verringerung der Emissionen, sondern auch auf eine starke, wettbewerbsfähige europäische Präsenz in der neuen sauberen Energiewirtschaft. Dazu gehört auch die Führungsrolle Europas in den Bereichen saubere Energietechnologie, Entwicklung und Innovation.

Meine Damen und Herren, lieber Klaus, lassen Sie mich noch einmal auf das Hauptanliegen des «Global Risk Report» zurückkommen: Desinformation und Fehlinformation. Die Bekämpfung dieses Problems ist seit Beginn meiner Amtszeit unser Schwerpunkt. Mit unserem Gesetz über digitale Dienste haben wir die Verantwortung der grossen Internetplattformen für die von ihnen geförderten und verbreiteten Inhalte festgelegt. Eine Verantwortung gegenüber Kindern und schutzbedürftigen Gruppen, die von Hassreden betroffen sind, aber auch eine Verantwortung gegenüber unserer Gesellschaft als Ganzes. Denn die Grenze zwischen online und offline wird immer dünner. Und die Werte, die wir offline hochhalten, sollten auch online geschützt werden. Dies ist in dieser neuen Ära der generativen KI sogar noch wichtiger.

Im «Global Risk Report» des Weltwirtschaftsforums wird künstliche Intelligenz als eines der grössten potenziellen Risiken für das nächste Jahrzehnt genannt. Zunächst einmal sollten wir nicht vergessen, dass KI auch eine grosse Chance darstellt, wenn sie verantwortungsvoll eingesetzt wird. Ich bin ein Technik-Optimist. Und als ausgebildete Medizinerin weiss ich, dass die KI das Gesundheitswesen bereits revolutioniert. Das ist gut so.

KI kann die Produktivität in einem noch nie dagewesenen Tempo steigern. Wer zuerst kommt, wird belohnt, und der globale Wettlauf hat bereits begonnen, keine Frage. Unsere künftige Wettbewerbsfähigkeit hängt davon ab, dass wir KI in unserem Geschäftsalltag einsetzen. Und Europa muss seinen Beitrag leisten und den Weg zu einem verantwortungsvollen Einsatz von KI weisen. Das ist eine künstliche Intelligenz, die die menschlichen Fähigkeiten erweitert, die Produktivität verbessert und der Gesellschaft dient. Wir sollten dort investieren, wo wir einen Wettbewerbsvorteil haben.

Europa hat zum Beispiel viele Talente. In Europa gibt es fast 200.000 Software-Ingenieure mit KI-Erfahrung. Das ist eine grössere Konzentration als in den Vereinigten Staaten und China. Und unser Kontinent hat auch einen enormen Wettbewerbsvorteil, wenn es um industrielle Daten geht. Wir können künstliche Intelligenz auf Daten von unübertroffener Qualität trainieren, und wir wollen in diese Daten investieren. Deshalb werden wir europäischen Start-ups und KMU Zugang zu unseren Supercomputern von Weltrang verschaffen, damit sie ihre grossen KI-Modelle entwickeln, trainieren und testen können. Dies ist vergleichbar mit dem, was Microsoft für Chat GPT tut, indem es auf seinen eigenen Supercomputern laufen lässt.

Wir werden auch gemeinsame europäische Datenräume in den Dienst von Start-ups stellen. Und wir werden riesige Datenmengen in allen EU-Sprachen zur Verfügung stellen, denn KI sollte auch für Nicht-Englischsprachige funktionieren. Dies ist die neue Grenze der Wettbewerbsfähigkeit. Und Europa ist gut positioniert, um bei der industriellen KI führend zu werden – dem Einsatz von KI, um kritische Infrastrukturen so umzugestalten, dass sie intelligent und nachhaltig werden.

Als wir vor vier Jahren unser Amt antraten, sahen wir die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene klare Leitplanken für die Entwicklung und den Einsatz von künstlicher Intelligenz zu setzen. Dieser Gedanke steht hinter dem europäischen Gesetz über künstliche Intelligenz, das weltweit das erste seiner Art ist und ein weiteres Beispiel dafür ist, wie sich Demokratien und Unternehmen gegenseitig stärken können. Das Gesetz über künstliche Intelligenz schafft Vertrauen, indem es sich mit Hochrisikofällen wie der biometrischen Identifizierung in Echtzeit befasst. Und indem es dieses Vertrauen schafft, ermöglicht es den Unternehmen, in allen anderen Bereichen innovativ zu sein, um das Beste aus dieser neuen und revolutionären Technologie zu machen.

Meine Damen und Herren, unsere Welt befindet sich in einer Zeit der Konflikte und Konfrontationen, der Fragmentierung und der Angst. Zum ersten Mal seit Generationen befindet sich die Welt nicht an einem einzigen Wendepunkt. Sie befindet sich an mehreren Wendepunkten, wobei sich die Risiken überschneiden und gegenseitig verstärken. Und es besteht kein Zweifel daran, dass wir mit dem grössten Risiko für die globale Ordnung in der Nachkriegszeit konfrontiert sind.

Meiner Meinung nach gibt es aber auch keinen Zweifel daran, dass wir mit Optimismus und Entschlossenheit vorwärts gehen können. Ja, die Risiken, denen wir gegenüberstehen, sind real und gegenwärtig. Aber um den Risiken zu begegnen, müssen wir Risiken eingehen – gemeinsam. Genau das hat Europa immer getan.

Die Europäische Union ist am besten, wenn wir mutig sind, wie wir es erst in den letzten Jahren beim Europäischen Green Deal, bei NextGenerationEU, bei der Unterstützung der Ukraine oder bei der Pandemiebekämpfung gesehen haben. Die nächsten Jahre werden von uns verlangen, dass wir in der gleichen Weise denken. Und ich glaube, dass die gemeinsame Kraft unserer Demokratien und unserer Wirtschaft und Industrie im Mittelpunkt stehen wird.

Unsere Unternehmen leben von der Freiheit, zu innovieren, zu investieren und zu konkurrieren. Aber die Freiheit in der Wirtschaft hängt von der Freiheit unserer politischen Systeme ab. Deshalb bin ich der Meinung, dass es unsere gemeinsame und dauerhafte Aufgabe ist, unsere Demokratie zu stärken und sie vor den Risiken und Einmischungen zu schützen, denen sie ausgesetzt ist. Wir müssen mehr denn je Vertrauen aufbauen, und Europa ist bereit, dabei eine Schlüsselrolle zu spielen.

Ich danke Ihnen vielmals.

Die 3 Top-Kommentare zu "EU-Chefin von der Leyen am WEF: Grösste Sorge sind nicht Krieg und Klima, sondern Desinformation"
  • 😢◕‿◕😢

    Ich vermisse die Wahrheit in diesen Sätzen!

  • doit

    Es ist wie im realen Leben: Wenn die Chefs Vertrauen fordern, dann haben sie ein tiefgehendes Problem. Bitte lest nochmals diesen Satz der nicht vom Volk eingesetzten EU-Chefin: "...verfügen die Unternehmen über die Innovation, die Technologie und die Talente, um die Lösungen zu liefern, die wir brauchen, um Bedrohungen wie ... Desinformation im industriellen Massstab zu bekämpfen." Genau so wie von einem gewisse Herr Orwell vorausgesagt. Gegen DAS müssten sich die Jungen auf die Strasse kleben!

  • Bischi49

    Ein Sammelsurium an Gemeinplätzen. Konkreteres und Handfesteres zu erwarten schiene mir, sie zu überfordern.