Berlin

Deutschlands Politik ist aus dem Häuschen. Der Regierung schwimmen die Felle davon. Aus Mangel an Argumenten verteufelt sie die Kritiker. Kanzler und Bundespräsident rufen gemeinsam auf zum ausserparlamentarischen Widerstand gegen die parlamentarische Opposition. Hat es das in der Bundesrepublik schon mal gegeben? Beobachter glauben bereits DDR-Szenen obrigkeitlicher Verzweiflung zu erkennen.

Ist Deutschlands Demokratie gefährdet? Nein. Deutschland ist von erdbebensicherer Stabilität, die meisten Deutschen gehen tüchtig ihrer Arbeit nach, wohl unbeirrt durch die Hysterie der Medien und der Politik. Erstaunlich stark ist die Wirtschaft, trotz dem grünen Sozialismus und den Bleiplatten der Ampel. Das politische Dschungelcamp Berlin steht nicht für die ganze Republik, zum Glück. Schon der grosse Publizist Sebastian Haffner schrieb, in der deutschen Hauptstadt sei alles etwas lauter und schriller.

Wir beobachten gerade das Grounding der grünen Politik. Sie hat den Realitätstest nicht bestanden. Seit Corona sind auch in Deutschland immer mehr Leute allergisch gegen die Anmassungen und Überheblichkeiten der Politik. Demokratie wird zusehends als Verfahren der Volksbeschulmeisterung gesehen. Scholz, Habeck und Co., aber auch die Spitzen der CDU/CSU und FDP haben das Gefühl, sie müssten den Deutschen befehlen, was sie zu denken, zu sagen, wie sie zu leben und zu wählen haben.

Sie reden von Demokratie, aber sie meinen sich selbst.

Dagegen regt sich nun Widerstand. Die Deutschen wollen keine Demokratie von oben. Umso weniger, als sich die Regierung zusehends als eine Truppe von Laienschauspielern entpuppt. Ihre Politik der Weltheilung, der mit gigantischen Subventionen angeschobene «grüne Umbau» ist nicht nur gegen die Lebenswirklichkeit der werktätigen Bevölkerung, der Gewerbetreibenden und der Industrie gerichtet. Das, was ohnehin nicht funktioniert, wird auch noch stümperhaft umgesetzt.

Deutschland hat konkrete Probleme. Der Wohlstand schwindet. Und die Leute haben längst gemerkt, was sie in Berlin tapfer verdrängen. Eine Ampel, bei der alle Verkehrslichter gleichzeitig blinken, führt ins Chaos, in die Massenkarambolage. Wie verzweifelt die Regierenden inzwischen sind, lässt sich an der Gehässigkeit ablesen, mit der sie auf die Opposition losgehen. Mit finsterer Wut klammern sie sich an ihre Macht. Gegen Kritiker und Andersdenkende fahren sie fauchend ihre Krallen aus.

Doch die Nazikeule ist morsch geworden. Die Verteufelungen verfangen nicht mehr so recht. Den Versuch, die oppositionelle AfD im Güllenloch des Hitlerismus zu entsorgen, durchschauen die Deutschen, die im Geschichtsunterricht nicht nur geschlafen haben, als durchsichtige Schindluderei mit der Vergangenheit zum Zweck des Machterhalts. Trotzdem protestiert noch keine jüdische Organisation gegen die im AfD-Bashing stets mitschwingende Verharmlosung der Nazizeit. Das ist erstaunlich.

Eben lief in Berlin die Premiere des von Til Schweiger produzierten, grossartigen Dokumentarfilms «Graciano Rocchigiani. Das Herz eines Boxers». Berührend gelingt es den Filmemachern, das Leben dieses Berliner Underdog-Kämpfers «Rocky» aus den neunziger und frühen zweitausender Jahren heraufzubeschwören. Es ist das Porträt eines beeindruckenden Sportlers, aber auch die wehmütige Erinnerung an eine wunderbar unbeschwerte Zeit, ein anderes Deutschland.

Was heute fehlt, sind Gelassenheit und republikanisches Selbstvertrauen. Deutschland hat in den letzten achtzig Jahren eine beeindruckende Erfolgsgeschichte hingelegt. Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs errichtete eine Generation wirklichkeitsgeprüfter Politiker von Adenauer bis Willy Brandt die Goldgrube eines Wirtschaftswunders. Die BRD stemmte nicht nur Wirtschaftskrisen, Ölschocks und den Kalten Krieg. Sie finanzierte die Europäische Union und meisterte auch die Wiedervereinigung.

Nichts aber ist schwerer zu ertragen als eine Folge von guten Tagen. Die grössten Dummheiten passieren immer, ob in der Familie, der Politik, im Geschäft, wenn es den Leuten zu gut geht. Man merkt gar nicht, wie sich das süsse Gift der Dekadenz in die Lebensadern schleicht. Die Deutschen sind gewissermassen das Opfer ihrer unheimlichen Tüchtigkeit geworden. Sie glaubten, sich die schönsten Illusionen leisten zu können, je grüner, desto besser.

Vielleicht kommt noch etwas anderes dazu. Die alte Bundesrepublik war das Gegenteil des Kaiserreichs, die politische Antithese zur Nazizeit. Im Gefolge der Staatsgründung von 1871 huldigte die deutsche Politik dem imperialen Ruhm, der Hegemonie, die sie zum Schluss mit mörderischer Kriegsgewalt anstrebte. Das alte Deutschland war ein Gernegross, die geteilte, bescheidene, provinzielle Bonner Republik dagegen war ein Gerneklein, in Anspielung auf den Schweizer Schriftsteller Kurt Marti.

Hat sich seit der Wiedervereinigung und dem Umzug von Bonn ins zwar zerschossene, aber immer noch imperiale Berlin unter neuem Anstrich das alte deutsche Grössengefühl politisch wieder eingenistet? Jedenfalls macht es den Anschein. Viele Gernegrosse und Wichtigtuer tummeln sich in den wuchtigen Regierungsbauten, beflissen, einer Welt, die auf sie nicht gewartet hat, den Tarif und moralische Diktate durchzugeben. Neuerdings spielt sogar ein grünmilitaristischer, militanter Zug hinein. 

Deutschland gernegross oder gerneklein? Das ist die Debatte, die noch nicht geführt wird. Der Psychostress der Politik hat auch mit einer Identitätskrise zu tun, die im Unterbewussten mottet. Wofür steht Deutschland heute? Grüne Supermacht? Oberlehrer der Moral? Aussenposten der US-Politik? Oder aber Brücke zwischen Ost und West, Champion der Bildung und der Industrie, Friedensstifter statt Waffenschmiede? Wie weiter mit der EU? Einstige Gewissheiten sind brüchig geworden.

Wollen die Deutschen eine gernegrosse oder eine gernekleine Bundesrepublik? Einen grossspurigen Staat, der auf der Weltbühne etwas sein und darstellen will? Oder erleben wir im klirrenden Abschied von der Ampel vielleicht eine Rückkehr zur Bescheidenheit, zum Pragmatismus, zur unbeschwerten Bundesrepublik?

Weniger Scholz und Co., mehr «Rocky»? Bald werden wir es sehen.

Die 3 Top-Kommentare zu "Gernegross, gerneklein"
  • wieland schmied

    Ein großer Wirtschaftler und nicht ganz so brillanter Politiker hat einst über UNS gesagt: "Der Deutsche entfaltet in der Stunde der Not höchste Tugenden. Die Frage bleibt, ob er im gleichen Maße den Stunden des Glücks gewachsen ist." Ludwig Erhard (1897-1977), deutscher Politiker (CDU), 1949-63 Bundeswirtschaftsminister, 1963-1966 Bundeskanzler. Fürwahr ein weiser Mann.

  • bacon of hope

    Dazu kommt noch das viermal so teure, dreckige LNG Gas aus den USA mit Schweröl heranschippern, plötzlich ist vom Klimaschutz keine Rede mehr. Aber North Stream zwei in die Luft sprengen und Scholz kann nur dumm neben Biden grinsen. Von Aufklärung keine Spur. So kann man auch die Wirtschaft zerstören. Diese unfähige, feige Ampel gehört sofort weg.

  • e.h.d

    Grüne und gegrünte Politik muss gebodet werden. Mit dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin entstand nach und nach eben auch ein neuer deutscher Grössenwahn in Regierungskreisen. Dem ist Verstand, Vernunft, Pragmatismus und Bürgerwille entgegenzustellen.