Russen haben ihre Herrscher immer in zwei Kategorien eingeteilt – zar batjuschka und zar mutschitel: Väterchen Zar und Peiniger Zar. Auf einen gütigen Führer folgte ein brutaler, auf einen grausamen ein liberaler. Entweder der eine oder der andere, einen Mittelweg gab es selten. Nicht wenige Zaren waren beides und mutierten während ihrer Herrschaft vom Väterchen zum Peiniger. Nur einer schlug den entgegengesetzten Weg ein: Nikita Chruschtschow, Stalins loyaler Vollstrecker, wurde zum Reformer.

Befreier der Leibeigenen

Auch als es keinen Zaren mehr gab, bestand die Tradition fort: Es machte keinen Unterschied, ob der Mann im Kreml eine Krone trug oder ein Parteiabzeichen. Die russische Geschichte ist wie eine Wippe, auf der abwechselnd mal das Gute und mal das Böse oben ist. Der Untertan wird nach oben oder unten geschleudert. Einfluss nehmen kann er nicht.

So schaffte Zar Paul I. viele Freiheiten ab, die seine Mutter, die grosse Katharina, gewährt hatte. Auf Alexander II., den Befreier der Leibeigenen, folgte Alexander III., der Ansätze einer bürgerlichen Gesellschaft wieder im Keim erstickte. Das Muster setzte sich nach der Oktoberrevolution fort: Auf die Eiszeit des Tyrannen Josef Stalin folgte Chruschtschows Tauwetter. Und nach der Jahrhundertgestalt Michail Gorbatschow und dem prowestlichen Reformer Boris Jelzin kam – Wladimir Putin.

Spätestens seit seinem Einmarsch in die Ukraine scheint er perfekt ins historische Raster zu passen. Er ist Iwan der Schreckliche, Stalin, die hässliche Fratze des barbarischen Russen. Oder besser noch: gleich der neue Hitler, gefährlich für nichts Geringeres als den Weltfrieden.

Doch wohlfeilen Vergleichen entzieht sich der Kremlherr, obschon es natürlich Parallelen gibt zu seinen Vorgängern. Als er zum ersten Mal ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit geriet, wollte man Ähnlichkeiten mit Juri Andropow (1914–1984) erkennen. So wie Putin kam der vorvorletzte KPdSU-Generalsekretär aus dem KGB und hatte aus geheimen Informationen einen glasklaren Blick auf die wahren Zustände im Land. Unbestechlich, kalt bis zur Gefühllosigkeit und mit der Rückendeckung der allmächtigen Dienste, schienen allein solche Männer imstande zu schmerzlichen Reformen.

Der Ukraine-Krieg legt schonungslos die russischen Mängel bloss.

Dem schwerkranken Andropow blieben nur fünfzehn Monate im Amt. Auf ihn folgte mit Konstantin Tschernenko ein letztes Fossil der verknöcherten Breschnew-Ära, bevor mit Michail Gorbatschow die regelmässige Abfolge von Reaktion und Reform wiederhergestellt zu sein schien. Doch der Erfinder von Glasnost und Perestroika passte auch in eine dritte Kategorie russischer Herrscher – jene, die das Land ins Chaos und Verderben stürzten. Die meisten Menschen sahen ihn als Wegbereiter für Boris Jelzin, während dessen Amtszeit Russland geschwächt, von Gewalt und Armut überzogen und zum Gespött des Auslands wurde.

Nicht nur gebildete Russen fühlten sich an Boris Godunow (1552–1605) erinnert, den von Puschkin und Mussorgski verewigten unglückseligen Zaren des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Mit ihm begann die smuta, die Zeit der Wirren, die fest im kollektiven historischen russischen Gedächtnis verankert ist: ein Vierteljahrhundert von Hungersnöten, brutaler Gewalt, Besatzung und Fremdherrschaft, vergleichbar mit den Schrecken des Dreissigjährigen Krieges in Deutschland. Und eine Zeit der Wirren mit Kriminalität, Willkür und Verarmung waren auch die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Selbstherrscher Iwan

So wie nach Godunow sehnte sich das geschundene Volk auch nach Jelzin nach Ordnung, Stabilität und Sicherheit. Wladimir Putin erfüllte diese Sehnsucht und wurde rasch zum Väterchen Zar. Die Menschen bekamen wieder Arbeit, Lohn und Sicherheit. Die kriminellen Wildwest-Oligarchen wurden auf ihre Plätze fern der Politik verwiesen. Und im Ausland brachte Putin die gestürzte Weltmacht allmählich wieder auf Augenhöhe mit anderen grossen Mächten. Wenn ein Führer Russland stärkt, kann er in den Augen von Zeitgenossen und Nachwelt für seine Untaten mit Nachsicht rechnen.

Das galt auch für Iwan den Schrecklichen (1530–1584), den ersten Grossfürsten von Moskau, der sich zum Zaren krönen liess und den einzigartigen Titel eines «Selbstherrschers» annahm. Er war von den byzantinischen Kaisern übernommen und bedeutete nichts anderes, als dass er das Reich und alle Untertanen als sein Eigentum betrachtete.

Iwan war verschlagen, nachtragend, gerissen und jähzornig. Im Zorn erschlug er seinen Sohn und Thronerben, was Russland in die Zeit der Wirren stürzte. Seine Geheimpolizei, die Opritschniki, verfolgte erbarmungslos alle Gegner – echte wie eingebildete. Aber er liess auch ein neues Gesetzbuch erarbeiten, beschnitt die Macht der adeligen Bojaren und berief ein Ständeparlament ein. Vor allem brach er das Tataren-Joch – die jahrhundertelange Unterwerfung Russlands unter die muslimischen Tataren, indem er deren Khanate Kasan, Astrachan und Sibir bezwang. Unter ihm betrat Russland die Bühne europäischer Mächte.

Russland hat sich immer an Europa orientiert und über Europa definiert.

Eine Konstante der russischen Geschichte ist das Bemühen, die Macht des Staates zu stärken – und dies als Reform zu verkaufen. Da es nie eine Zivilgesellschaft westlichen Zuschnitts gab, war der Staat der einzige Motor aller Reformen – was wiederum die Bildung einer Zivilgesellschaft behinderte. Ein Teufelskreis bis heute. Schon Iwan der Schreckliche entmachtete den Hochadel und machte ihn von sich abhängig: Ihm gehörten das Land und seine Schätze, nur er konnte sie zuteilen, aber auch wieder entziehen. Putin hat beides beibehalten: Seine Machtvertikale gestattet ihm, direkt durchzuregieren. Sein Deal mit den Oligarchen – Ihr dürft Geld verdienen, solange ihr mir nicht politisch in die Quere kommt – hätten Iwan und seine Nachfolger auch gut verstanden.

Das gilt auch für Peter den Grossen (1672–1725), den vermutlich einzigen russischen Herrscher, der sowohl daheim als auch im Ausland einen guten Ruf hat. Denn er schien ein für alle Mal eine Frage zu klären, von der Russland bis heute besessen ist: von seinem Verhältnis zu Europa. Neue Hauptstadt, neuer Kalender, neue Verwaltung, neue Armee, neue Kleidung, neue Haartracht – einen vergleichbaren Umsturz sollte Russland erst zwei Jahrhunderte später mit Lenins Oktoberrevolution erleben.

Patriotismus, Kollektivismus

Russland hat sich immer an Europa orientiert und über Europa definiert – mal als leuchtendes Vorbild, mal als abschreckendes Zerrbild. So wie gütige auf strenge Zaren folgten, lösten sich im Verlauf der Geschichte immer proeuropäische mit slawophilen Denkern ab. Wann immer die ideologische Annäherung an den Westen zu eng wurde, schienen der einzigartige russische Mythos, der orthodoxe Glaube, die Seele des Landes in Gefahr. Putins Tiraden gegen den dekadenten woken Westen stehen in dieser Tradition.

Auch Peter traf auf Widerstand, den er mit brachialen Methoden brach. Entscheidend war indes auch bei ihm, dass er Russland gegenüber seinen Feinden im Ausland stärkte. Nach einem Sieg über die Schweden im Grossen Nordischen Krieg verkündete er selbstbewusst: «Vorher kannte uns kein Mensch auf der Welt, aber jetzt müssen sie uns respektieren.» Diesen Satz könnte auch Wladimir Putin unterschreiben.

Ein Vorbild dürfte Peter für Putin jedoch nie gewesen sein, nicht einmal zu Beginn seiner Karriere. Er hat immer traditionelle russische Werte – Patriotismus, Kollektivismus, Unterwerfung unter den Staat – hochgehalten: Letzterer sei «die Quelle und der Garant der Ordnung, der Initiator und Motor für jegliche Veränderungen», schrieb er im Dezember 1999 in seinem «Millennium-Manifest». Daher überrascht es wenig, dass er in einem anderen Zaren ein Ideal erblickt: Alexander III. (1845–1894). Für ihn weihte er persönlich zwei Denkmäler ein, ihn rühmte er als Begründer einer «Epoche nationaler Wiedergeburt», wie auch ihn sieht er sich als Erben aus dem Ruder gelaufener Reformen.

Die russische Geschichte ist wie eine Wippe, auf der abwechselnd mal das Gute und mal das Böse oben ist.

Blaupause für Putin

Alexanders Vater war bei einem Bombenattentat von Anarchisten der Gruppe «Narodnaja Wolnja» (Volkswille) getötet worden. Alexander II. hatte den Beinamen «der Befreier» erworben, weil er die Leibeigenschaft der Bauern beendet hatte. Zudem liberalisierte er Hochschulen, Justiz und Verwaltung. Doch sein Sohn, ein 1,90 Meter grosser Hüne mit kargen intellektuellen Fähigkeiten, sah in den Reformen eine Gefahr für Staat und Thron. Unnachsichtig verfolgte er Oppositionelle – und entzündete damit die Lunte, die zur Machtübernahme der Bolschewiki führte. Denn eines der Mitglieder des «Volkswillens», die auf sein Geheiss hin exekutiert wurden, war Alexander Uljanow, Lenins älterer Bruder. Erst dieses Ereignis radikalisierte den späteren Revolutionsführer.

Putin dürfte sich Alexander III. freilich auch beruflich verpflichtet fühlen. Dieser begründete mit der Ochrana wenn schon nicht den Vorläufer, so doch das Vorbild des sowjetischen KGB, für den der heutige russische Präsident arbeitete. Die Ochrana wiederum baute auf der berüchtigten III. Abteilung auf, die Alexanders Grossvater Nikolaus I. (1796–1855) einrichten liess.

Das Leben dieses Zaren dient viel eher als Blaupause für Putins Präsidentschaft. Wie diesen beunruhigten auch Nikolaus liberale Strömungen im Westen, zumal die bürgerlichen Revolutionen der 1830er und 1840er Jahre. Russische Truppen intervenierten in Polen, Rumänien und Ungarn. Den Idealen Liberté, Egalité, Fraternité setzte Nikolaus den Dreiklang Orthodoxie, Autokratie, Volksgemeinschaft (narodnost) entgegen. So wie Putin sich zum Fürsprecher aller Russen im Ausland aufschwingt, sah sich der Zar als Schutzherr aller Menschen orthodoxen Glaubens jenseits der Grenzen.

Ausländer im Land wurden überwacht, oppositionelle Kräfte verfolgt. Eine Gruppe von Studenten wurde zum Tode verurteilt. Das Erschiessungspeloton war aufmarschiert, das Kommando gegeben, da erging in letzter Sekunde die Begnadigung. Einer der Studenten war Fjodor Dostojewski. Das grausame Spektakel hatte sich der Zar persönlich ausgedacht, und es könnte auch nach dem Geschmack Wladimir Putins sein.

Krim als Schlüssel und Hauptpreis

Weltanschaulich untermauert wurde diese Politik von dem panslawistischen Denker Michail Pogodin, dessen Attacken auf westliche Doppelmoral beklemmend aktuell tönen: «Frankreich nimmt der Türkei Algerien weg, und fast jedes Jahr annektiert England ein weiteres indisches Fürstentum», schrieb er. «Nichts davon stört das Machtgleichgewicht, doch wenn Russland die Moldau und die Walachei auch nur vorübergehend besetzt, ist das Gleichgewicht der Kräfte gestört.» Vom Westen könne Russland nichts erwarten als «blinden Hass und Bosheit, die nichts versteht und nichts verstehen will».

Nikolaus’ Politik stürzte Russland in die schmachvollste Demütigung seiner jüngeren Geschichte – den Krimkrieg. Ein Angriff auf das Osmanische Reich vereinte die westlichen Mächte hinter Konstantinopel. Das Schlachtfeld war die Krim. Russland erlitt eine vernichtende Niederlage. Sein Marinestützpunkt Sewastopol wurde vernichtet, die Schwarzmeerflotte aufgelöst. Nie zuvor war eine Grossmacht von den Siegern entwaffnet worden. Dabei hatte Russland noch Glück. Lord Palmerston, Premierminister der damaligen westlichen Supermacht Grossbritannien, wollte den Krieg auch ins Baltikum und in den Kaukasus tragen. Sein Ziel: Russland ein für alle Mal als ernstzunehmenden Machtfaktor auszuschalten. Aber Frankreich war dagegen. Gnadenlos deckte der Krieg Russlands Schwächen auf: Korruption, Rückständigkeit, Inkompetenz der Armeeführung, mangelnde Ausbildung der Soldaten, Schwäche der Wirtschaft.

Tönt das vertraut? Schliesst sich hier ein Kreis? Denn auch im Ukraine-Krieg ist die Krim Schlüssel und Hauptpreis. Auch der Ukraine-Krieg legt schonungslos die russischen Mängel bloss. Auch im Ukraine-Krieg fordern die Falken in der heutigen westlichen Supermacht USA, Russland ein für alle Mal als ernstzunehmenden Machtfaktor auszuschalten.

Wenn der Hobby-Historiker Putin nach seinem Platz in der Geschichte sucht, dürfte ihm diese Parallele nicht entgangen sein.

Dieser Artikel erschien erstmal am 8. Dezember 2022.