Eben lese ich den grossartigen Fünfbänder «Die unseligen Könige» von Maurice Druon, genauer: Ich lasse mir diesen französischen Bestseller der 1950er Jahre vorlesen, in Ermangelung eines deutschen Hörbuchs auf Englisch. Sorry, Druons Hochfranzösisch ist zu gut für mich. Ausserdem macht es der englische Vorleser Peter Joyce brillant. Seine Interpretation fühlt sich an wie ein Theaterstück von Shakespeare.
Das Werk ist fantastisch. Darauf gestossen bin ich, als auf Sky «Game of Thrones» lief, diese Fantasy-Saga um ein erfundenes mittelalterliches Grosskönigreich, in dem sich die Adeligen gegenseitig betrügen, abschlachten, in immer fürchterlichere Intrigen verstricken. Exzellente Unterhaltung. Der Autor der Buchvorlage, George R. R. Martin, beruft sich als Inspirationsquelle auf Druons detailgenau recherchierten Historienroman.
«Die unseligen Könige» behandelt den Niedergang Frankreichs im 14. Jahrhundert, den Verfall der Dynastie der Kapetinger am Höhepunkt ihrer Herrschaft. Das reichste, stärkste und kulturell führende Königtum Europas stürzt innert weniger Jahrzehnte in Elend und Krieg. Am Ursprung des Unheils steht ein Fluch – ausgestossen auf dem brennenden Scheiterhaufen von Jacques de Molay, dem letzten Grossmeister der Tempelritter.
Druon war eine Figur, wie es sie heute nicht mehr gibt, Literat, Romancier, grosser Erzähler und Politiker aus russisch-jüdischer Familie, auf eine wunderbar moderne Art konservativ, dekorierter Ritter, Kavalier der Künste und Kulturminister in der Regierung von Präsident Georges Pompidou. Er starb 2009 nach einem reichen Leben, über achtzigjährig. Seine politische Laufbahn beendete er als Mitglied des Europaparlaments.
Druons Frankreich geht an der Mittelmässigkeit seiner Herrscher zugrunde. Auf den grossen, strengen Philipp IV. (1268–1314) folgt eine Reihe unfähiger Söhne und Thronfolger, dazwischen Ränke, Ehebruch und Mord, das ganze Horrorkabinett menschlicher Laster und Abgründe, ein Königreich als Schlangengrube, und die Bewohner der Herzogtümer und Grafschaften sind dem Walten der Mächtigen ausgeliefert wie einer bösartigen Krankheit.
Die «Schwyzer» waren für die Regenten Europas eine Zumutung, eine Provokation. Sie sind es heute noch.
Ich musste beim Zuhören oft an die Schweiz denken. Was für ein Wunder, unser Land. Als Philipp IV. seinen einstigen Günstling, den Tempelritter de Molay, nach erfolterten Geständnissen 1314 öffentlich verbrennen liess – um einen Machtrivalen auszuschalten und dessen Reichtümer einzusacken –, schickten sich die Eidgenossen an, die herzoglichen Ritter Habsburgs am Morgarten zu besiegen, um die Adels-Autokraten abzublocken.
Natürlich war die Schweiz noch keine Demokratie, aber sie war dabei, sich nach den Sagen ihrer Widerstandshelden eine schon für damalige Verhältnisse einzigartig demokratisch-freiheitliche Verfassung zu geben. Nicht ein fast allmächtiger König wie in Frankreich sollte herrschen. Die Eidgenossen bauten sich einen Staat des Misstrauens gegen Monarchen und Potentaten. Sie erkannten: Freiheit ist zerstückelte politische Macht.
Das ist die Geschichte unseres Landes. Die Gründer unserer Schweiz brauchten keinen Druon, um vorauszusehen, dass ein Land, dessen Wohl von der Qualität seiner Herrscher abhängt, früher oder später verloren ist. Macht korrumpiert, und wehe, wenn Grössenwahn, Eitelkeit oder Mittelmässigkeit regieren. Frankreich brauchte fast sechs Jahrhunderte bis zur Demokratie. Die «Schwyzer» Bergbauern legten erste Samenkörner im Sommer 1291.
Die Schweiz ist eine kolossale politische Errungenschaft, das Gegenteil dessen, was Druon so wunderbar beschreibt, ein Monument des zivilisatorischen Fortschritts zur Freiheit, als die angeblich fortschrittlichsten Regenten Europas noch nichts von Freiheit im schweizerischen Sinne hören wollten. Deshalb bekämpften sie die Eidgenossen bis aufs Blut. Die «Schwyzer» waren für sie eine Zumutung, eine Provokation. Sie sind es heute noch.
Nach wie vor liegt die grösste, einzigartige Qualität der Schweiz darin, dass sie nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben regiert wird. Eine tiefe realistische Einsicht prägt den Aufbau unseres Staates: Irgendwann versagt auch die klügste Elite. Siehe Credit Suisse. Macht stumpft ab, macht dumm. Weil das so ist, muss Macht breit gestreut bleiben. Das schützt vor Fehlentscheiden nicht, macht sie aber erträglicher und korrigierbarer.
Bedroht wie ein seltenes Pflänzchen ist die Schweizer Demokratie der Selbstbestimmung nach wie vor. Heute aber schwingen sich nicht Könige und Herzöge aus entlegenen Fürstenhöfen auf, um über die Eidgenossen zu gebieten. Die modernen Aristokratien heissen EU, G-20 oder Uno-Sicherheitsrat. Auch sie entscheiden autoritär, losgelöst und abgehoben, von oben nach unten, über alle Köpfe hinweg, an der Lebenswirklichkeit der Schweiz vorbei.
Als Schweizer hätte Druon sein fulminantes Werk niemals schreiben können. Unsere Geschichte produziert keine grossen Tragödien und Dramen, höchstens Dramolette, Komödien, manchmal Tragikomödien. Kein Wunder, leiden unsere Dichter an ihrer Schweiz. Sie ist ihnen zu klein für die grossen Stoffe und Romane. Ihr Unbehagen ist das Ergebnis unseres Glücks: der anspruchsvollen Freiheit, selber über unser Schicksal zu bestimmen.
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