Man muss Anna Netrebko nicht vorstellen. Die russisch-österreichische Sopranistin ist der vielleicht grösster Opernstar unserer Zeit. Vielen gilt sie als letzte Primadonna assoluta.

Doch seit letztem Jahr ist aus dem gefeierten Superstar ein gefallener Engel geworden. Denn Anna Netrebko verweigerte sich zunächst den Bekenntnisritualen des westlichen Medienzirkus. Statt sich von dem Überfalls Russlands auf die Ukraine zu distanzieren, sagte sie zunächst lieber entsprechende Engagements ab.

Um nicht missverstanden zu werden, liess die Netrebko schliesslich dennoch erklären, dass sie den Krieg nachdrücklich verurteile. Doch in den Augen der Scharfrichter der allein richtigen Moral langt das nicht: Immer wieder kommt es zu Protesten, wo die Netrebko auftritt. So etwa diese Woche in Berlin, wo der Star in Verdis «Macbeth» singen soll.

In einem offenen Brief fordern 38 Organisationen und rund hundert Einzelpersonen: «Keine Bühne für Putin-Unterstützerin Anna Netrebko». Eine Demonstration ist angekündigt. Berlins Kultursenator Joe Chialo hat bekanntgegeben, die Auftritte der Netrebko zu boykottieren.

Denn den Scharfrichtern des richtigen Meinens reicht eine Klarstellung nicht. Sie fordern die totale Unterwerfung, die Kapitulation – ein abstossendes Schauspiel. Dabei erinnert der Wahn, Künstler auf eine ideologische Linie zu verpflichten, an dunkelste Zeiten deutscher Geschichte. Das Publikum übrigens hatte ein feines Gespür für den unseligen Geist, der sich in der Kulturindustrie breitmacht, und feierte die Netrebko am Freitagabend euphorisch. Ein Sieg der Freiheit über die Engstirnigkeit.