Dialektik ist die Methode, Gegensätze dadurch aufzuheben, dass man sie zu einer Synthese führt und so zu höherer Erkenntnis gelangt. Friedrich Engels etwa stellte fest, dass Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei. Das war einerseits eine Verballhornung Hegels. Vor allem aber war es gut dialektisch gedacht und eine Steilvorlage für Diktaturen aller Art: Freiheit ist Einsicht in das Unvermeidbare.

Insofern muss man sich den EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell als grossen Dialektiker vorstellen.

Bei einer Konferenz gegen Desinformation verteidigte er die Sperrung russischer Medien wie RT und Sputnik mit der Notwendigkeit, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Wörtlich sagte er: «Damit greifen wir nicht das Recht auf freie Meinungsäusserung an, sondern wir schützen das Recht auf freie Meinungsäusserung.»

Soviel Dialektik hätte sogar Friedrich Engels vor Neid erblassen lassen: Verteidigung der Meinungsfreiheit durch Unterbindung der Meinungsfreiheit.

Borrell befindet sich mit dieser realpolitischen Anwendung dialektischen Denkens allerdings ganz auf der Höhe der Zeit. Bücher werden sanktioniert, Autoren gecancelt, Medien verunglimpft – alles im Namen der Meinungsfreiheit. Man schützt die Demokratie, indem man demokratische Regeln verletzt, und schafft Vielfalt durch intellektuelle Monokultur.

Keine Frage: Natürlich erleben wir seit einem Jahr einen massiven Propaganda- und Informationskrieg. Und natürlich sind die russischen Medien hochgradig gelenkt. Doch gerade, wenn man vorgibt, die Werte des Westens zu verteidigen, sollte man den Mut haben, sich rücksichtslos zu ihnen zu bekennen.

Freiheit ist Freiheit. Und mündige Bürger können sie aushalten.