Endlich ist Deutschland mal wieder ganz vorn. Nicht nur bei Olympia, wo die Springreiter und Schwimmer sich die ersten Edelmetallscheiben sicherten, nein, diesmal hat ausgerechnet das behäbige Bundesverfassungsgericht einen soliden Frühstart hingelegt.

Während man sich in Deutschland sonst an verspätete Züge, marode Strassen und Brücken und unberechenbare Ämter gewöhnt hat, lieferten diesmal die sonst so bedächtigen Verfassungshüter in Karlsruhe ein lupenreines Leak in eigener Sache, dass Julian Assange vermutlich vor Neid erblasst wäre.

Irgendwann am Montagabend muss irgendwer in der Onlineredaktion des höchsten deutschen Gerichts das Urteil zum neuen Wahlrecht der Ampelkoalition in die Hände beziehungsweise auf den Bildschirm bekommen und in bester Schabowski-Manier («Das tritt … nach meiner Kenntnis … ist das sofort!») beschlossen haben, den juristischen Mauerfall «unverzüglich» zu verkünden.

Jedenfalls konnte die wache Netzgemeinde bis gegen 23 Uhr auf der offiziellen Seite der roten Roben nachlesen, was die ehrwürdigen Richter erst am kommenden Tag offiziell verkünden wollten. Einen vergleichbaren Fauxpas gab es bei dieser wohl letzten grossen Vertrauensinstanz der deutschen Justiz noch nie.

Da freut sich das Reporterherz, wenn der Kommentar zum Urteil schon vor der Verkündung fertig ist. In der Sache freilich ist der Spruch zum Wahlrecht eher schwierig. So nachvollziehbar es ist, dass die Karlsruher Richter die schwere Unwucht zulasten kleiner, stark regional verankerter Parteien monierten, so schwerer dürfte es künftig werden, den deutschen Wählern klarzumachen, was sie da an der Wahlurne eigentlich tun.

Durchgewinkt haben die Verfassungsrichter nämlich eine Änderung, die dazu führt, dass der Gewinner eines Wahlkreises nicht mehr zwingend auch wirklich in den Bundestag einzieht. Hat seine Partei insgesamt zu wenige Stimmen bundesweit erzielt, so fallen einzelne Wahlkreise für diese Partei weg. Dort bekommt dann der Zweitplatzierte den Sitz im Hohen Haus, und der vom Wähler mehrheitlich bestimmte Sieger geht leer aus, hat Kosten und Engagement für nix eingesetzt.

Eine moderne Art von Wähler-Lotto. Jeder Kandidat wird künftig also gut beraten sein, wenn er sich über die jeweiligen Landeslisten zusätzlich absichert. Ade selbstbewusste Unabhängigkeit, willkommen devotes Gutstellen mit der Parteinomenklatura.

Ob man diesen Ratschluss der Roben-Richter nun etwas früher oder später nachlesen konnte, ändert an der Substanz freilich nichts. Aber wenn Justitia die Augenbinde für die kommentierende Zunft etwas früher lüftet, wird selbst die dröge Rechtsmaterie zur nächtlichen Entdecker-Safari. Schon ein Kreuz mit diesem Internetz.

Ralf Schuler ist Politikchef des Nachrichtenportals NIUS und betreibt den Interview-Kanal «Schuler! Fragen, was ist». Sein Buch «Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde» ist bei Fontis (Basel) erschienen. Sein neues Buch «Der Siegeszug der Populisten. Warum die etablierten Parteien die Bürger verloren haben. Analyse eines Demokratieversagens» erscheint im Herbst und kann schon jetzt vorbestellt werden.