Das Festival Kazantyp auf der Halbinsel Krim war ein Sehnsuchtsort für alle Ukrainer und Russen. Es fand zwischen 1992 und 2013 statt und lockte Tausende von jungen Menschen an – um ein Stück der westlichen Freiheit einzuatmen. Dabei war ein gelber Koffer das Sinnbild für das fröhliche Treiben – weshalb, weiss heute niemand mehr so genau.

Auch ich wusste nichts davon. Als wir aber unserer neuen Nachbarin, der geflüchteten Ukrainerin Oksana Kraftschenko und ihrem Sohn Dimitri einen alten (gelben) Koffer vorbeitrachten, dass die Temporär-Schweizer darin die ihnen gespendeten und geschenkten Kleider verstauen konnten, realisierte ich schnell, dass ein gelber Koffer in der Ukraine mehr ist als ein blosser Gebrauchsgegenstand. Zum ersten Mal, seit Oksana in der Schweiz angekommen war, leuchteten ihre Augen.

Am Vorabend hatte uns die 30-jährige IT-Spezialistin die Geschichte ihrer Reise in die Schweiz erzählt. Die ersten zwei Wochen der russischen Invasion harrte Oksana in Kellern und in U-Bahn-Stationen in Kiew aus. Als die Versorgungslage immer prekärer wurde, entschloss sie sich mit ihrem Sohn zur Flucht. Ihr Mann – weil er sich mit 35 Jahren im wehrdiensttauglichen Alter befindet – musste bleiben.

Aber Oksana packte ihr Leben in eine Tasche und die Dokumente in einen Rucksack. Weil das Gepäck auf dem Fussmarsch durch Kiew zu schwer wurde, musste sie die Tasche zurücklassen. Am Zentralbahnhof bestieg sie einen der Evakuierungszüge.

Destination: Irgendwo im Westen.

Sie hatte Glück im Unglück. Denn wenig später war der Zug rappelvoll. Viele Menschen blieben draussen. Auf dem Weg zur Westgrenze des Landes passierten sie viele Bahnhöfe mit verzweifelt wartenden Menschen, die keine Chancen mehr hatten, einen freien Platz zu erhalten.

Für Oksana und Dimitri sollte es besser kommen – allerdings nicht ohne Umwege. Nach zwei Nächten in einem Flüchtlingslager in Polen wurden sie in einen Bus eingewiesen. Ziel: Italien, wo mit 250.000 Ukrainern eine der grössten Diaspora des Landes lebt.

Als Oksana und Dimitri den Bus nach rund 48 Stunden verliessen, waren sie in Neapel. Doch die Stadt am Vesuv empfing sie nicht mit offenen Armen. Niemand wollte sie aufnehmen. So fand Oksana in ihrem Telefon die Nummer einer Bekannten in der Schweiz. Nach einer weiteren Nacht im Zug kam sie am Hauptbahnhof in Zürich an.

Nun hat sie in der Gemeinde Maur ein Dach über den Kopf erhalten – und ist unendlich dankbar: «Ich habe noch nie einen so schönen Ort und so nette Menschen getroffen wie in der Schweiz. Die Solidarität ist überwältigend.»

Sollte sie einen Job finden, könne sie es sich durchaus vorstellen, länger hierzubleiben – falls ihr Mann nachreisen dürfte. Doch ein anderer Wunsch ist noch viel grösser: Nach Kiew zurückzukehren – lieber heute als morgen. Mit ihrem gelben Koffer.