Manchmal verstehen die Verfasser eines Textes selbst erst später, dass sie eben ihren Namen unter ein historisches Dokument setzten. So könnte es der Findungskommission gehen, die eigentlich entscheiden sollte, wer die kommende Documenta kuratiert, die 16. Ausgabe der ehemals wichtigsten öffentlichen Kunstschau Europas. Für die Kommissionsmitglieder gibt es nichts mehr zu finden und zu entscheiden. Zwei der ursprünglich sechs verliessen die Gruppe schon, die restlichen vier traten am 16. November geschlossen zurück.

Sie begründeten ihren Schritt mit einer Erklärung, die möglicherweise den Schlusspunkt hinter die gesamte Documenta-Geschichte setzt. «Falls Kunst bedeutet, die komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten unserer Gegenwart zu berücksichtigen», heisst es in dem kurzen Brief zum langen Abschied, «dann braucht es dafür angemessene Bedingungen, die das für diverse Perspektiven, Betrachtungsweisen und Diskurse erlaubt. In den gegenwärtigen Umständen glauben wir nicht, dass es in Deutschland den Raum für einen offenen Austausch von Ideen und die Entwicklung komplexer und nuancierter künstlerischer Annäherungen gibt, den die Künstler und Kuratoren der Documenta verdienen.»

 

Antiwestliche Ideologie

In seinem Stil, mit viel Klingelwörtern – «Diskurs», «Raum», «divers» – so abstrakt wie möglich zu bleiben, ähnelt das Kommissionsschreiben auf bemerkenswerte Art den Manifesten, mit denen Kuratoren und subventionierte Künstler ihr Publikum seit geraumer Zeit ermüden. Für den Zerfall des Documenta-Findungskollektivs gab es sehr konkrete Gründe. Zum einen stellte sich heraus, dass eines seiner Mitglieder, der Inder Ranjit Hoskoté, 2019 eine Erklärung der Organisation «Boycott, Divestment, Sanctions» (BDS) unterzeichnet hatte, deren erklärtes Ziel darin besteht, Israel durch Boykotte in die Knie zu zwingen. Das Manifest bezeichnete Israel im Duktus der antiwestlichen Ideologie als «siedlerkolonialen Apartheidstaat». Hoskoté beteuerte, er habe sich nie für den kulturellen Boykott des jüdischen Staates eingesetzt. Das sieht BDS selbst anders; die Organisation plädiert dafür, Israel auf allen Ebenen zu isolieren. Zwar entliess niemand Ranjit Hoskoté als Kommissionsmitglied. Allerdings stellten sich Kulturstaatsministerin Claudia Roth und Documenta-Direktor Andreas Hoffmann nach dem Antisemitismus-Skandal der letzten Schau in Kassel auch nicht hinter ihn. Also warf der indische Autor beleidigt hin.

Seine israelische Kollegin Bracha Lichtenberg Ettinger ging aus anderen Gründen; sie bat nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober darum, ihr und der Kommission eine Pause zu gönnen. Ettinger wollte für eine Weile in Israel bleiben, um die Ereignisse zu verarbeiten. Aus welchen Gründen auch immer lehnte Hoffmann das ab und pochte auf den Zeitplan. In seinem Rücktrittsschreiben beklagte das Rumpfkollektiv die angeblich unfaire Behandlung Hoskotés in den Medien. Auf das Ausscheiden Ettingers ging es nur ganz am Rande ein. Nach der chaotischen und bizarren Documenta 15 im vergangenen Jahr stehen die Verantwortlichen jetzt vor der ganz grundsätzlichen Entscheidung: Lohnt es sich überhaupt, eine neue Findungskommission zusammenzutrommeln?

 

«Dreigroschenoper» gegen die AfD

Die Frage, wem eigentlich etwas fehlen würde, wenn die Kunstschau in Zukunft nicht mehr stattfinden würde, zieht sich so ähnlich durch den gesamten deutschen Subventionskulturbetrieb. Vor kurzem veranstaltete die Bayerische Akademie der Schönen Künste eine Veranstaltung mit dem Titel «Publikumsbegrüssung», zu dem sie aktive und vor allem ehemalige Theatergänger einlud, um herauszufinden, warum immer mehr davon fortbleiben. Die Münchner Kammerspiele etwa erreichen nur noch eine Auslastung von 55 Prozent. An dem Abend fiel unten im Saal der einrahmungswürdige Satz: «Ich erinnere mich an eine Zeit in München, in der man für die Schauspieler ins Theater gegangen ist.» Es gab auch einmal eine Zeit, in der Liebhaber wegen der Sänger und des Orchesters in die Oper gingen und wegen der Kunst in eine mit Steuermitteln finanzierte Ausstellung.

Mit der ersten Documenta versuchten Arnold Bode und Werner Haftmann 1955, Westdeutschland wieder an die internationale Moderne anzuschliessen. Die legendäre Documenta 5 von Harald Szeemann fragte 1972 nach «Bilderwelten heute» und bündelte die wichtigsten Kunstströmungen der Zeit im Fridericianum. Schon in ihren letzten Folgen verwandelte sich die Schau in Kassel immer mehr zu einer Bühne für postkoloniale Theorie und allgemeine Anklagen gegen den Westen, bei denen die Exponate nur noch assistieren und illustrieren durften. Mit dem Kollektivkurator Ruangrupa erreichte die Ausstellungsserie, die einmal Weltgeltung besass, ihren Tiefpunkt, markiert durch ein Agitprop-Bild, das Judenfiguren mit Schweinsnase und gelben Vampirzähnen zeigte.

Darauf reagierte das Justemilieu aus Kulturbürokraten und Feuilleton erst einmal frei nach Martin Kippenberger mit der Versicherung: «Ich kann beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen.» Erst nach und nach dämmerte es ihnen, dass sich eine Stürmer-ähnliche Karikatur in Deutschland selbst unter grössten dialektischen Verrenkungen nicht als Aufschrei des globalen Südens verkaufen lässt. Die Schau, in die niemand mehr der Kunst wegen zu gehen brauchte, verzeichnete die niedrigste Documenta-Besucherzahl seit 2007. Aber darin liegt noch nicht einmal der eigentliche Punkt. Zu Szeemanns Zeit zog die Ausstellung noch deutlich weniger Publikum an. Das entscheidende Drama bestand darin, dass ein Ereignis, das einmal in die Welt hinausstrahlte, in wenigen Wochen des Jahres 2022 zu einem schwarzen Loch zusammenfiel.

Wer tatsächlich wissen will, warum sich immer weniger Besucher dorthin, in die ehemals legendären Münchner Kammerspiele und andere Theater der Republik verirren, braucht eigentlich nur das Programm zu studieren, das die Kammerspiele-Intendantin Barbara Mundel dem Restpublikum an der Münchner Prinzregentenstrasse vorsetzt. Dort gibt es Belehrung, Konstrukte und Veranstaltungstitel wie «Female Peace Palace» mit den Unterpunkten «Assembly» und «Green Corridors».

In der Dresdner Staatsoperette hielt es ein Regisseur für eine brillante und irrwitzig subversive Idee, die «Fledermaus» auf genderfluid und grün zu bürsten. Also muss Gabriel Eisenstein, kaum bei Prinz Orlofsky eingetroffen, nach den «hübschen Boys» fragen und Gefängniswärter Frosch über Gender-Sprech und Wärmepumpen monologisieren.

Ebenfalls in Dresden am Staatsschauspiel verwurstete Regisseur Volker Lösch Brechts «Dreigroschenoper» zum Anti-AfD-Agitprop: Peachum tritt dort als Parteiboss auf, der mit Hilfe der opportunistischen CDU die Macht im Freistaat ergreift. Das alles kommt ohne die geringste brechtsche Verfremdung auf die Bühne, ohne doppelten Boden und auch nur den allerkleinsten ästhetischen Überschuss. Weil das offenbar immer noch nicht reichte, liess Lösch nach dem Ende des Quälodrams noch einen echten Klimaaktivisten von der Bühne herab eine Aufrüttlungsrede halten.

Der Aberwitz des gekaperten Kunstbetriebs besteht darin, dass die Fachleute der angewandten Zuschauervergrämung tatsächlich glauben, sie würden mit ihren Ausstellungen und Inszenierungen provozieren, Masken von Gesichtern reissen und Sehgewohnheiten aufbrechen. Die zunehmende Abstinenz der Bürger erklären sie sich als gefährlichen politischen Backlash, gegen den sie in Zukunft mit doppeltem und dreifachem Eifer ankuratieren und -inszenieren müssen. Und mit aufgestocktem Etat, versteht sich. Irgendwie müssen sie die Zuschauerflucht ja finanziell kompensieren.

 

Ein grosser Spass

Seine Sehgewohnheit respektive -erinnerung sagt dem vertriebenen Publikum aber gerade, was es auf den Bühnen und in den Ausstellungshallen nicht erwarten darf und es stattdessen bekommt: eine Mixtur aus Postkolonialismus-Proseminar, Evangelischem Kirchentag und «Tagesthemen»-Kommentar, abgeschmeckt mit Spritzern eines in dreissig Jahren schlecht gealterten radical chic. Eine echte Provokation – nicht für Schau- und Hörwillige, aber umso mehr für das Kulturbetriebsnudeltum – wäre heute ein Wagner-Inszenierung, die an den Jahrhundertring von Patrice Chéreau heranreicht. Oder zeitgenössische Malerei – echte Bilder! ohne ellenlange Erklärtafeln!  – in Kassel. Ein einziges Bild von Neo Rauch auf der Documenta 16 hätte vermutlich auf die Priesterfürsten des Betriebs, die vor lauter Dekonstruktion kaum noch laufen können, einen ähnlichen Effekt wie die Countrymusik in «Mars Attacks!» auf die Aliens. Das würde ein grosser Spass.

Die einzige neue Documenta, die noch Sinn ergäbe, wäre eine, die es wagt, die Kunst wiederzuerobern. Dazu müsste die Kunst dort nur sein dürfen, was sie immer war: eigene Welt statt Illustration. Die Chancen auf diese Schubumkehr stehen nur denkbar schlecht. Auf ihre Weise verkörperte die Documenta immer ihre Zeit. In der Ära der Zeichensetzer mit staatlichem Pensionsanspruch gäbe es deshalb kein besseres Symbol, als 2027 in Kassel ein Fridericianum mit verrammelten Türen zu zeigen.

Was die Documenta angeht, für immer.